Er sieht sie durchdringend an und beginnt, mit leiser Stimme auf sie einzureden. „Sophia, du hast es noch immer nicht begriffen. Nach all den Jahren nicht. Willst du wissen, warum ich hier bin? Pass auf.“ Er legt seine Hände zwischen ihre Brüste und schließt die Augen. Sophia wird ruhiger. Ihr Atem wird regelmäßiger und tiefer. Er streichelt sie, zieht sie an sich, küsst ihr Haar. Sie fängt an zu weinen. Er streichelt ihren Rücken. Die Erinnerungen kommen. Sie wehrt sich nicht mehr.
Bevor sie aufwacht, weiß sie, dass er gegangen ist. Bevor sie aufwacht, weiß sie, dass er zuvor mit offenen Augen neben ihr gelegen und die Wand angeschaut hat. Sie weiß, dass ihr Arm auf seiner Brust lag, dass er sich vorsichtig von ihr befreit, sich leise angezogen und davongestohlen hat. Sie hat geschlafen und geträumt. Sie hat all das gesehen und weiß, dass er nicht mehr zurückkommen wird und dass sie darüber froh sein sollte. Sie weiß, dass sie blaue Flecken am Hals und auf den Armen hat. Sie weiß, dass sie in Ordnung ist. Sie weiß, dass er niemanden getötet hat. Sie ahnt, dass sie sich dafür hassen wird. Es lief nicht so, wie es hätte laufen sollen. Sie hat sich nicht genügend zur Wehr gesetzt. Cameron ist gegangen und hat ihre Depression mitgenommen. Sie erinnert sich, sie schlägt die Hände vors Gesicht, sie verkriecht sich unter der Decke, unter ihren verknoteten langen Haaren. Cameron ist weg und sie verabscheut sich dafür, dass sie es jetzt schon bedauert. So viele Jahre sind vergangen und was hat sich verändert?
„Gott gibt’s. Gott nimmt’s. Wer sind wir, dass wir uns einmischen? Wir nehmen unser Leben nur deshalb so ernst, weil wir denken, wir haben nur eines. Wer sind wir, dass wir so denken?“
Sophia sieht durch den Mann hindurch auf die rauchenden Jugendlichen in der hinteren Ecke des Parks. Er lässt sich davon nicht abschrecken und kommt noch einen Schritt näher. „Schwester, es ist der Eifer, der uns Gottes Liebe nimmt. Die Ernsthaftigkeit. Das Regelwerk, das uns vom Leben abhält. Schwester, du musst dich freimachen …“
Er greift nach ihrer Sonnenbrille und sie wehrt ihn ab. Sein Geruch nimmt ihr den Atem. Da sieht sie, dass er in einem schimmernden Fellmeer steht, kleine dunkle Leiber, die um seine Füße wuseln. Sie zwinkert ein paar Mal. Führt der Mann ein Rudel Ratten aus? Plötzlich steht Gray neben ihr, macht ein empörtes Gesicht und verscheucht den Penner. Sie schließt die Augen. Als sie sie wieder öffnet, ist der Rattenmann weg und Gray sitzt neben ihr. Er sieht sie scharf an. „Was hast du da?“
„Was meinst du?“
„Da, am Hals. Was ist das?“
„Nichts.“
„Ich kann doch sehen, dass da was ...“
Sie zieht sich das Tuch vom Hals und fängt an, sich zu schütteln. Gray starrt ungläubig auf die dunklen Flecken, auf den Kratzer, der sich bis zum Ohr zieht und in einem Pflaster endet. Er will sie in den Arm nehmen, doch sie drückt ihn weg. Sie weint, ohne Tränen oder Trauer. Sie weint ohne Wut. Sie weint, weil jetzt der Zeitpunkt ist, an dem geweint werden muss. Weil sie sich nicht mehr versteht, weil sie ihre Depression verloren und noch keinen Ersatz dafür gefunden hat. Dann sagt sie, „Cameron“. So als würde das alles erklären.
Gray zuckt zusammen. „Was hat er getan? Das da? Zeig mal her. Hat er dir das angetan? Was ist passiert?“
„Ich weiß es nicht. Er kam vorbei, er hat mich überwältigt. Er hat mich ... Nein. Ich war für einen Moment weg. Ich habe mich nicht gewehrt. Ich habe ihm zugehört. Er hat mir erzählt, was passiert ist. Er hat mir alles erzählt. Er hat mich, keine Ahnung, ich erinnere mich nicht mehr. Ich weiß nicht, woher die blauen Flecken kommen. Erst jetzt, erst jetzt …“ Sie erzählt ihm von Camerons Geschichte. Dass er die Männer besucht und sie wieder verlässt, wenn sie schlafen. Dass er ihnen Frieden und Ruhe bringt, weil sie das wollen. Dass es mehr als Sex ist. Und dass er nicht weiß, was danach passiert. Sie erzählt ihm die ganze Geschichte so, wie sie es sich vorher überlegt hat. Sie lässt nichts aus, auch nichts, was ein schlechtes Licht auf sie werfen könnte. Die Geschichte klingt glaubwürdig, logisch. Sie glaubt selbst daran.
Gray runzelt die Stirn. Er will nicht wahrhaben, was er hört. Dass Cameron seine Partnerin aufgesucht und vergewaltigt hat. Dass er ihr, nur ihr und nicht ihm, seine Rolle in dieser Mordgeschichte verraten hat. Gray ist hin- und her gerissen zwischen Wut und Eifersucht, Angst und Beschützerinstinkt. Er will Sophia in die Arme nehmen, trösten, schütteln, ausfragen, ohrfeigen. Er bleibt wie versteinert auf der Bank sitzen und sieht ins Leere.
Sophia lacht bitter. „Und ich habe ernsthaft geglaubt, du könntest mir helfen. Was bin ich für ein Idiot.“ Sie steht auf und geht mit schnellen Schritten weg, vorbei an den rauchenden Jugendlichen, vorbei an dem Obdachlosen, der über einen Mülleimer gebeugt einen kleinen Hund indoktriniert, weg von Gray. Sie dreht sich nicht mehr um und Gray versucht nicht, sie aufzuhalten. Er blickt auf die Bäume vor ihm, rotgolden in der Dämmerung. Ein Eichhörnchen springt auf die Bank gegenüber und schaut ihn wissend an. Gray verschluckt sich und beginnt zu husten. Als er die Augen wieder öffnet, ist das Eichhörnchen weg. Sophia hat ihn angelogen. Cameron auch.
AM SEE:
Der See glitzert dunkel. Der Mann auf dem Badewannenrand weiß, dass der See auf ihn wartet. Schwarz liegt er vor den Fenstern und breitet sich bis zum Horizont aus. Der Mann greift sich an den Hals und sieht nach oben. In den Spiegel. Seine Augen sind so dunkel wie das Gewässer, aber nicht so unergründlich. Er hat Angst. Er hat Schweineangst. Sie liegt auf dem Bett. Sie wartet. Sie haben ein Abkommen. Er tut so, als sei ihr Haar echt. Sie tut so, als sei er echt. Er schluckt, steht auf und öffnet die Tür. Er geht auf sie zu. Ihr blondes Haar macht sich über ihn lustig. Er legt die Hand auf ihre Schulter, dreht sie um. Sie fällt vor ihm aufs Bett. Er lässt sich auf sie fallen. Willenlos.
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