Das habe ich nicht gemalt. Oder doch? Manchmal bin ich so breit, dass ich mich nicht mehr erinnern kann. Und das Ergebnis ist dementsprechend. Früher habe ich so immer wieder Arbeiten verhunzt. Deshalb male ich an Bildern im Endstadium nur noch nüchtern, höchstens angetrunken. Meistens jedenfalls. Aber hier? Ich trete noch einen Schritt zurück. Die Frau schaut mich an, keine Frage. Und dann passiert etwas Merkwürdiges: Während ich sie betrachte und den Hintergrund, das zusammen geschobene Metall, den Rauch, die Nacht dahinter, entdecke ich neben ihr auf dem Beifahrersitz das Phänomen. Ich weiß, dass es da ist, ich habe es gemalt, doch ursprünglich sah es anders aus. Es war nur vage zu erkennen, ein zweiter Körper, ohne Kopf, angegurtet. Und jetzt? Je länger ich hinschaue, desto besser kann ich es sehen. Als würde es aus dem verrußten Sitz wachsen. Das Phänomen hat auf einmal einen Kopf. Schemenhaft zwar, aber unverkennbar. Ich kann Augen wahrnehmen, Nase, Mund. Das Gesicht kommt mir bekannt vor. Ich schaue genauer. Komme näher. Gehe einen Schritt zurück. Unverkennbar. Mir wird übel.
Als ich in die Küche gehe, habe ich das Geräusch schon vergessen. Und dann sehe ich es. Die grüne Salatschüssel, die Larissa mir geliehen hat, liegt auf dem Boden. Sie ist in zwei Teile gebrochen. Ich bücke mich und dann fällt es mir ein.
Ich hatte ihr die Schüssel zurückgegeben. Vor über zwei Wochen. Ich steckte sie in eine Tüte und gab sie Silvester mit, als er aus dem Auto stieg. Larissa nahm sie ihm mit einer Hand ab und fuhr ihm mit der anderen durchs Haar. Dann winkte sie mir zu. Ich erinnere mich genau.
Ich brachte Silvester zurück und fuhr wieder nach Hause. Danach malte ich die ganze Nacht über. Am Unfall. Eine Straße in Nordengland. Frühe 1960er. Ein hellgrüner Cortina, aber das erkennen nur noch Profis. Die Frau am Steuer in einem hellblauen Kleid, das Blut schon eingetrocknet an manchen Stellen. Überlebte sie den Unfall? Das Foto, das ich als Vorlage benutzte, zeigt neben ihr auf dem Sitz einen menschengroßen Fleck. Vermutlich retuschiert oder doppelt belichtet. Vielleicht ist es ein Schatten. Vielleicht eine Erscheinung. Das Foto legt sich nicht fest, aber das Archiv, in dem ich es gefunden habe, schon. Dort heißt es: Verstorbener Bruder erscheint neben Unfallopfer.
In meinem Bild bin ich der Bruder. An den Rest des Abends kann ich mich nicht mehr erinnern.
*****
Wann habe ich angefangen, Geister zu malen? Anfangs waren es für mich keine Geister. Es waren „Phänomene“. Fehler in der Wahrnehmung. Löcher im System. Larissa war die erste, die von Geistern sprach. Sie stand im Atelier und schaute sich die Bilder schweigend an. Sie war schwanger und ich ließ sie in Ruhe.
Schließlich drehte sie sich um und schüttelte den Kopf. „Geister? Warum Geister?“
Ich weiß nicht mehr, was ich darauf antwortete. Ob ich irgendetwas antwortete. Aber es blieb hängen. Wir würden ein Kind kriegen. Und ich malte Geister. Das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun, bis Larissa die Verbindung herstellte. Sie sagte es nicht, doch ich hörte es: Hör auf mit den Geistern und kümmere dich um uns. Der Vorwurf schwang mit: Hätte ich nicht nur Geister gemalt, wäre ich erfolgreicher geworden. Wer will sich schon „Phänomene“ ins Wohnzimmer hängen?
Heute weiß ich, dass ich keine Wahl hatte.
Damals wusste ich das noch nicht und meine Erklärungsversuche richteten sich sowohl an sie als auch an mich. Warum Geister? Ich sehe mich, wie ich vor ihr stehe, in der Ateliergemeinschaft in Treptow, in hellen, zugigen Räumen, die sich kaum beheizen lassen. Ich habe mehrere Jacken an und male in Handschuhen mit abgeschnittenen Fingern. Larissa findet das albern und zieht mich damit auf.
„Du bist so ein Spitzweg geworden. Der arme, lungenkranke Maler im kalten Osten.“ Sie lacht, aber ihr Lachen ist nicht freundlich.
Ich lache auch und sage, dass ich mir kein Atelier im warmen Westen leisten kann. Außerdem mag ich die Leute, mit denen ich mir die Räume teile, alle Spitzwegs wie ich. Ich erwähne nicht, dass ich eine Frau lieber mag als die anderen. Diese Frau und ihre ofenbeheizte Wohnung in Neukölln sind der Grund, warum ich mir in dem Winter damals keine Lungenentzündung hole. Wenn Larissa etwas davon ahnt, zeigt sie es nicht. Man könnte behaupten, unsere Kommunikation läuft nicht ideal.
Und da ich es nicht mehr gewohnt bin, mit Larissa über Dinge zu sprechen, die mir nahe gehen, werden unsere Unterhaltungen zunehmend komplizierter. Ich mache vage Handbewegungen, mit denen ich mir die Worte aus dem Mund ziehen möchte. Worte, die nicht von allein kommen. Am liebsten würde ich es in Ektoplasma sagen. Und anstatt mit der Wahrheit, irgendeiner Wahrheit herauszurücken, sage ich etwas Verkopftes. Meine Hoffnung: Je abgehobener die Erklärung, desto schwieriger wird es für Larissa, sich mit einer Frage einzuklinken. Also sage ich, dass es mir nicht um die „Realität von pararealen Phänomenen“ geht. Sie zieht die Augenbrauen zusammen. Ich fahre fort, dass es nicht die Geister an sich sind, ihre Existenz oder Nichtexistenz, die mich interessieren. Es geht nicht um den Nachweis für ein Leben nach dem Tod, um Zwischenzonen oder Zeitparadoxe. Das sage ich.
Larissa runzelt die Stirn.
Ich sage, dass ich Fälschungen male. Das ist zumindest technisch gesehen die Wahrheit. Ich erzähle von Manipulationen, die das Leben für manche von uns leichter machen. Simulationen einer Parallelwelt, die verlockend erscheint, weil sie anders ist und dennoch unserer Welt nicht so unähnlich. Ich erzähle vom Ort der Projektionen, dem Ort, wo Ängste Namen haben und deshalb beherrschbar erscheinen.
Larissa Blick wird ungeduldig.
„Geister sind ein dankbares Sujet, weil sie alles sein können.“ Ich rede schneller. „Wir haben nicht nur einen Geist, jeder von uns ist eine potenzielle Geistererscheinung. Wir sind das unerklärliche Zeug, vor dem wir uns fürchten.“
Larissa blickt mich verständnislos an.
Ich zeige auf das Portrait des toten Jungen mit dem Fisch im Mund, ein kleines Bild für meine jetzigen Verhältnisse und schwarzweiß.
„Was fühlst du, wenn du ihn siehst?“
Ich hasse es über die Bilder zu reden. Für meine Frau mache ich eine Ausnahme.
Sie legt den Kopf schief. „Ich bekomme Angst. Ich weiß nicht, wovor, aber ich schaue nicht gerne hin. Obwohl es ... Obwohl es auch eine gewisse Faszination hat.“
Sie denkt, ich möchte das hören. Am liebsten würde ich meinen Vortrag abbrechen. Es geht weiter. Worte, die wie aus Versehen aus meinem Mund stolpern. Hände, die in der Luft rudern. Kein Geisterschaum, der mir aus der Nase tropft. Nur Sätze, die sich nicht zu einem Konzept verdichten wollen. Ich bin konzeptlos. Das Schlimmste, das einem Künstler passieren kann.
„Angst ist wichtig. Sie hilft dir beim Überleben. Du siehst etwas Totes. Oder etwas scheinbar Totes. Und du hast Angst.“
„Freud?“, fragt sie leise.
„Nein. Ich meine ja, vielleicht. Du merkst, du bist noch nicht tot, du bist noch nicht an diesem Punkt angekommen. Du fühlst dich lebendig.“
Ich werfe einen Blick auf ihren Bauch, in dem Silvester Tag für Tag größer wird.
„Aber du hast auch Angst, weil ein bisschen Tod schon in dir steckt. Wenn du das nicht in dir erkennen würdest, hätte es keine Wirkung auf dich. Das Unheimliche ist, dass du vielleicht selbst ein Geist bist. Dass es eine Kontinuität zwischen dem Tod da ...“ Ich zeige auf das Bild des Jungen, „und dir gibt.“
Larissa schaut an sich herunter. Sie muss es nicht sagen, aber sie sagt es trotzdem. „Da ist Leben drin, Beat. Nicht Tod.“
„Wo Leben ist, ist auch Tod. Aber darum geht es mir nicht.“
„Um was geht es dir dann?“
Sie sieht mich mit ihren langgezogenen grauen Augen an, mit einem Ausdruck, den sie in den Wochen zuvor perfektioniert hat. Der sich selbst genügende, auf sich selbst zurückgeworfene Blick einer Schwangeren. Ich bin empfindlich geworden.
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