„Warum denn? Ich bin doch da.“
„Ich habe nach dir gerufen. Aber du bist nicht gekommen. Papa.“
Er weint immer stärker, sein Schluchzen wird kürzer, abgehackter.
„Silvi, ich hatte Kopfhörer auf. Was ist denn los?“
„Papa, hier spukt’s.“
Nach einer halben Stunde habe ich Silvester beruhigt und wieder ins Bett gebracht. Als ich ihn zudecke, schaut er mich an und flüstert: „Du kennst ihn auch, oder?“
Er meint den Jungen mit den Hasenohren. Den Quälgeist seiner Alpträume.
Ich schüttle den Kopf. „Ich glaube nicht, mein Schatz.“
Dass mein Kind seit Monaten von einem bösartigen Wesen träumt, immer wieder von demselben, ist wahrscheinlich kein gutes Zeichen für seine Entwicklung. Ich sollte mit Larissa darüber reden, aber ich weiß schon jetzt, was sie sagen wird: Dass er die Alpträume nur bei mir hat und dass sie mit den Bildern zusammenhängen. Obwohl ich noch nie einen Jungen mit Hasenohren gemalt habe. Ich beschließe, am nächsten Morgen mit ihm darüber zu reden. Wenn es hell ist und wir beide keine Angst haben müssen.
Als ich das Licht neben dem Bett ausmachen will, zucke ich zusammen. Auf dem Nachttisch steht ein kleines Plastikgespenst. Ich nehme es in die Hand und mache das Licht aus. Es leuchtet grünlich.
„Woher hast du das?“
Silvester antwortet mit verschlafener Stimme. „Das ist Funzi. Er beschützt mich.“
„Ja, aber wo hast du ihn gefunden?“ Ich bereue meine Frage sofort. Ich sollte ihn schlafen lassen.
Er nimmt mir das Gespenst aus der Hand und dreht sich um. „Funzi lag auf dem Kopfkissen. Der ist für mich, oder?“
Ich reiße mich zusammen. „Klar ist der für dich, Schatz. Schlaf gut.“
Ich weiß nicht, wie lange ich neben ihm auf dem Bett sitzen bleibe. Zusammengesunken starre ich in die Dunkelheit und frage mich, wie der Inhalt eines Überraschungseis, das mir jemand in die Tüte am Fahrrad gesteckt hat, in meine Wohnung kommt. Als ich die Augen öffne, dämmert es. Silvester schläft tief, eine geballte Faust neben seinem blau schimmernden Gesicht auf dem Kopfkissen. Funzi leuchtet grün aus der Faust. Sein Schutz gegen die Geister, die ich rufe. Sein Geist gegen meine Geister. Mir wird schwindelig, als ich aufstehe.
# 4: 18. Januar
Gestern rief ich die Nummer an, weil mir nichts mehr anderes einfiel. Ich dachte nicht, dass ich mich dazu überwinden würde, aber ich war betrunken und hatte die Schere schon zweimal in der Hand und immer noch zu viel Energie übrig, also rief ich an.
Eine Frau meldete sich und ich wollte sofort wieder auflegen, aber dann fragte ich doch nach ihm. Sie meinte, dass er nicht da sei und ich hinterließ meine Nummer. Heute Morgen rief sie mich zurück und lud mich auf eine Party ein, morgen Abend. Er würde auch da sein und sich freuen, wenn ich käme.
Erst als ich auflegte, war ich aufgeregt. Keine Ahnung, warum ich denke, dass ausgerechnet dieser Mann mir helfen kann, aber mir würde es schon reichen, wenn er meine Hand nimmt und mich anschaut oder wenn seine Freundin mit mir kichert, als könnte man gut mit mir kichern. Besser als ein weiterer Abend zu Hause, an dem das Telefon nicht klingelt.
„Und? Haben sich die Bullen nochmal bei dir gemeldet?“ Jesse zieht an seiner Zigarette und starrt die Frau zwei Tische weiter an.
„Die Bullen?“
„Wegen deiner Nachbarin, Mann.“
Ich kratze am Flaschenetikett. Die Frau starrt zurück. Er dreht den Kopf zu mir, zieht eine Augenbraue nach oben, zieht an der Zigarette, bis seine Wangenknochen Schatten werfen und bläst mir den Rauch ins Gesicht. Ich will nach Hause.
„Nein.“
„Nein?“
„Sie haben nicht mehr angerufen.“
„Du wirst nicht mehr verdächtigt?“ Er grinst breit.
Ich schaue an ihm vorbei und sehe, wie die Frau aufsteht, auf uns zugeht. Sie senkt den Kopf und nimmt uns ins Visier, erst ihn, dann mich. Eine Maus, die sich für die Katze hält. Jesse zieht scheinbar entspannt an seiner Zigarette, aber seine Augen verraten ihn.
Ich lehne mich über den Tisch. „Hier kommt deine Beute.“
Jesse dreht sich zu ihr um. Sie wirft ihm einen tiefen Blick zu und geht an uns vorbei in Richtung Klo. Er starrt ihr hinterher.
Ich räuspere mich. „Es war wohl wirklich Suizid. Ich bin raus.“
Er sieht für einen Moment enttäuscht aus und ich habe Lust, ihn zu treten. Aber ich weiß, das macht ihn an und lasse es bleiben. Ich fühle mich matt.
Er nimmt einen letzten Zug und nickt mir zu. „Wartest du auf mich? Dauert nicht lange.“
Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie ich zu Hause im Sessel sitze. Ganz allein. Mit einem Glas Wein. Einem Joint. Musik. Frieden.
Warum ich nicht zu Hause geblieben bin: Den ganzen Tag über hat mich ein ungutes Gefühl geritten. Doch passiert ist nichts. Abends stritt ich mich mit Maya und fuhr darauf in Jesses Stammbar. Er war tatsächlich da und schien sich eine halbe Minute lang über mich zu freuen. Dann zeigte er auf eine Gruppe Touristinnen und fragte: „Rot oder blond?“
Seitdem frage ich mich, warum ich überhaupt aus dem Haus gegangen bin. Ich sehne mich nach Ruhe und Dunkelheit. Ein typischer Anfall von Ambivalenz, der mich an manchen Tagen stundenlang lähmt. Heute nicht. Ich trinke mein Bier aus, schalte mein Telefon aus und gehe nach Hause.
Die Polizei hat sich tatsächlich nicht mehr gemeldet. Soll ich beim Vermieter nachfragen? Ich verwerfe den Gedanken sofort wieder. Wenn ich von der Sache nichts mehr höre, ist wohl alles in Ordnung. Ich lasse mich in den Sessel fallen, kratze mich am Kopf. Mein Haar stinkt, obwohl ich es gestern gewaschen habe. Nichts ist in Ordnung. Juliana stach sich ein Auge aus und erhängte sich. Kurz nachdem ich sie malte. Und in ihrem Notizbuch steckte ein Foto von mir. Ich stehe auf und gehe nach hinten. Dort, wo das Licht der Neonröhren nicht mehr hundertprozentig hinreicht, stehen die fertigen Bilder. Als ich den Unfall hervorziehe, höre ich ein Geräusch in der Küche. Mein Magen zieht sich zusammen, aber ich schaue nicht nach. Langsam schiebe ich das Bild ins Licht.
Ich könnte es zerstören. Zerschneiden, zerreißen, zerfetzen, verbrennen. Oder einfach nur übermalen. Ich suche nach dem inneren Impuls, dem manischen Feuer, das den Schritt rechtfertigen würde, und trete einen Schritt zurück. Ich finde das Bild nicht besser oder schlechter als andere Bilder von mir. Es ist fertig und ich hänge nicht mehr sonderlich daran. Ein fertiges Bild muss für sich stehen. Sobald ich es abgeschlossen habe, bin ich auch emotional damit fertig. Nerven kosten mich nur die Arbeiten, die kein Ende finden. Oder die, die ich nie anfange.
Doch ist dieses Bild wirklich fertig? Mir fällt auf, dass es eine merkwürdige Stimmung hat. Keine, die ich beabsichtigt hatte. So etwas passiert öfters. Ich male etwas, ohne zu ahnen, wie es schließlich als Endprodukt wirken wird. Die Räume verselbstständigen sich. Die Charaktere bekommen Charakter. Die Farben verändern sich, ohne dass mir das beim Malen bewusst wird. Ich bin ein ziemlich stumpfer Demiurg in meiner Welt. Die meiste Zeit weiß ich nicht, was ich tu. Was entsteht, entsteht. Was nicht, kann später noch hinein interpretiert werden.
Eigentlich war das Bild vor zwei Wochen fertig. Ich erklärte es für gelungen und schob es weg. Jetzt stehe ich vor dem Unfall und sehe Details, die mir vorher nicht aufgefallen sind. Die verletzte Frau, gerade dem Tod entronnen und weggetreten, sieht anders aus. Anders als auf dem Foto und anders, als ich sie malen wollte. In meiner Erinnerung war ihr Blick unfokussiert. Das gesunde rechte Auge halbgeschlossen, das geschwollene linke Auge im Schatten, ihr blutüberströmtes Gesicht weich, fast schlaftrunken. Und jetzt? Sie schaut mich an, das halbgeöffnete Auge ist eindeutig auf den Betrachter fixiert. Sie sieht vorwurfsvoll aus. Einäugig vorwurfsvoll. Ich fahre mir mit der Hand über mein linkes Auge und merke, dass ich schwitze. Mir ist flau im Magen. Ich sollte etwas essen.
Читать дальше