1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Ich weiß, wie der Mann sich fühlt.
Ich male so lange, bis ich das Pfeifen in den Ohren höre, das Knistern der Blitze. Ich schüttle den Kopf und male weiter, bis sich das Bild vor mir aufbläst. In allem, was ich jetzt noch auf die Leinwand bekomme, wird sich ein nervöser Strich zeigen, eine fahrige Linie. Ich mache trotzdem weiter. Ich kann nicht anders. Etwas reitet mich. Nach einigen Minuten spüre ich den bekannten Druck, der vom Nacken über die rechte Seite nach oben kriecht. Erst sehe ich alles überdeutlich. Die Farbe wölbt sich nach vorne, bewegt sich auf meine Finger zu, an manchen Stellen verläuft sie. Dann kann ich meine Augen kaum noch auf den Mann fokussieren und mir wird bewusst, dass ich nicht mehr viel Zeit habe. Ich schaffe es aufzuhören, wasche die Pinsel aus, wasche die Hände, trinke ein Glas Wasser, nehme zwei Schmerztabletten. Als ich endlich auf dem Bett sitze, hat sich eine Hand von rechts in meinen Kopf hineingegraben. Ich lasse mich seitlich aufs Bett sinken. Das Telefon klingelt. Wahrscheinlich Larissa. Ich stelle mir vor, wie ich das Telefon hole, mich melde, mich entschuldige. Ihr schnippisches „Dann halt nicht!“ ertrage. Die Zeit hört auf. Das Klingeln ist keine Folge von Tönen mehr, sondern ein Licht sprühender Schlauch. Alles existiert gleichzeitig, nichts hört auf, nichts fängt an. Nur die Hand in meinem Kopf streckt die Finger aus, macht sie zur Faust, ohne Eile, ohne Gnade.
Bevor ich komplett abtauche, rieche ich den süßlichen schweren Duft. Etwas berührt mich an der Schulter. Ich reiße die Augen auf, sehe etwas Helles im Augenwinkel, aber ich kann den Kopf nicht mehr drehen und die Lider fallen mir zu, ohne dass ich mich wehren kann. Ich falle falle falle, bis die Berührung an der Schulter den ganzen Körper umfasst, bis ich aufhöre, meinen Körper zu spüren. Der Schmerz in meinem Kopf ein Anker, mit dem ich das Boot auf dem offenen Meer befestige.
Der Schmerz meine ganze Welt. Nicht mehr, nicht weniger.
Die ersten Male versuchte ich es zu ignorieren. Es nervte, aber ich nahm es hin. Es passierte einfach. Inzwischen passiert es viel zu oft. Ärzte verschreiben mir Schmerzmittel. Verbieten mir Schokolade. Verbieten Rotwein und Käse. Zigaretten. Einer schlägt vor, in Zukunft nur noch mit Wasserfarben zu malen, „die stinken nicht so.“
Eine Ärztin mit hellen Augen schaut mich lange an. „Wissen Sie, Hildegard von Bingen hatte dasselbe Problem.“
„Aha.“
„Und Vincent van Gogh. Sind Sie nicht auch Maler?“
Ich starre sie an.
„Ich sage das nicht gerne, aber vielleicht müssen Sie einfach lernen, mit dem Schmerz umzugehen. Ihn für sich zu nützen. Wir wissen im Augenblick noch nicht genau, wie Migräne entsteht oder wie sie geheilt werden kann. Aber wir machen gute Fortschritte! Und bis es eine wirkungsvolle Therapie gibt, können Sie die Triggerfaktoren identifizieren und vermeiden, Sie wissen schon, Alkohol, Zigaretten, wenig Schlaf ...“
„Wetterumschwünge.“
„Ja“, lacht sie auf. „Soweit es eben geht. Aber das Wichtigste ist, dass Sie Ihren Zustand akzeptieren, dass Sie das Beste daraus machen, und bei Bedarf ein Schmerzmittel nehmen.“
Ich bedanke und verabschiede mich. Auf der Straße stecke ich mir eine Zigarette an und inhaliere tief. Ich gehe zum Fleischer und hole Schweinsohren. Dann schlendere ich zurück und werfe ein Ohr in den Arztbriefkasten. Das andere schenke ich Maya. Sie bedankt sich mit einem Artikel aus einem Frauenmagazin. Botox-Behandlungen, Biofeedback, Hormontherapie.
„Gegen Migräne kann man was tun. Hast du schon mal ein EEG machen lassen?“
„Ein Hirntumor ist es nicht. Enttäuscht?“
Maya zuckt mit den Schultern. „Du weißt ja, dass ich auf kranke Männer stehe. Ich würde dich gerne pflegen.“
Sie lacht ihr glucksendes Lachen und ich drücke mein Gesicht in ihren Bauch.
Es fängt mit einem Pochen an. Meistens auf der linken Seite, hinten. Etwas klopft von innen an den Schädel. Kurz darauf wird mir schlecht. Der Raum verzieht sich zu einer Röhre und wird heller. Zu hell. Wenn ich zu Hause bin, mache ich das Licht aus und lege mich hin. Ich versuche, die Augen offen zu halten, solange es geht. Ich will den Halt nicht verlieren. Dann konzentriere ich mich auf den Atem, bis alles einfriert. Töne verklumpen sich zu visuellen Reizen. Zucken wie Kugelblitze durch den Raum. Mein Atem wird zu einem dichten Nebel, hinter dem alles verschwimmt.
Ich darf die Augen nicht schließen. Der Schmerz will mich holen. Ich darf den Kontakt nicht verlieren. Wenn es von innen an den Schädel klopft, muss ich draußen bleiben. Der Schmerz darf mich nicht erwischen. Ich reiße die Augen auf, bis sie mir zufallen, und dann.
Dann passiert es.
Es ist, wie wenn ich vor mich hin kritzele, nur unangenehmer. Etwas klopft mir den Kopf auf. Dringt ein in Brust, Fußsohlen, Augenlider. Kommt von hinten angepirscht und stürzt mich mit steingefüllten Taschen in den Fluss. Wirft sich über mich wie ein Mantel, drückt mir die Luft ab, weicht stundenlang nicht mehr von mir. Nach den Feuern der Aura hängt es wie grauer Nebel vor mir. Das ist meine Migräne. Erst ein Gewitter, dann eine schwere Dunkelheit, die mir den Atem nimmt.
Nach dem Anfall muss ich malen, bis der Druck wieder verschwunden ist. Übermalen, unter Farbe vergraben, aus dem Bewusstsein verbannen. Irgendwann einmal habe ich begriffen, dass das am besten funktioniert, wenn ich Geister male. Inszenierte und erfundene Geister. Leichte Lichtwesen, erwachsen aus Doppelbelichtungen, Gazetüchern oder an den Körper geklebten Zeitungsausschnitten. Für meine Vorlagen bediene ich mich aus dem großartigen Werk der Geisterfotografie.
Es dauerte eine Weile, bis ich den Zusammenhang bemerkte. Plötzlich wurde es mir klar, nach Jahren, in denen ich mich durch die Migräne malte. Ich male falsche Geister, damit die echten keine feste Form annehmen, damit sie keine Macht erhalten. Ob es Geister jenseits meiner feuernden Nervenenden gibt, weiß ich nicht. In den Gewittern, die durch meinen Kopf ziehen, erahne ich etwas, eine Welt in der Welt, normalerweise verschlossen oder zu leise für die alltägliche Wahrnehmung. In der übermäßigen Erregung meiner Synapsen zeigt sich etwas, das ich nicht erklären kann. Oder will. Deshalb muss ich mich in einen Zustand malen, in dem mir das egal ist.
Ich male, bis mir der letzte Geist aus der Hand getropft ist. Ich halte mich an den gefälschten Geistern fest, bis sich das Migränephantom auflöst und ich den berühmten Schub kriege. Bis ich die Energie spüre, die Reinigung, das, was Larissa Männermenses genannt hat, als sie es noch gut mit mir meinte. Danach will ich nicht mehr malen, aber ich muss. Muss beenden, was ich angefangen habe. Und so wächst ein Bild ins nächste, vor der Migräne ist nach der Migräne.
Manchmal bin ich dankbar für diese Regelmäßigkeit.
Zwei Tage nach dem Migräneanfall ruft Moiras Assistentin mich an und berichtet, dass ein weiteres Bild von mir verkauft wurde, die Frau im Aquarium. Es ging an denselben Klienten, der vor einiger Zeit den Asthmatiker erstand. Das Bild, das Moira den Gehörnten nannte, weil der Kunde angeblich auf blöde Titel steht. Ich frage mich, wie sie die Frau im Aquarium vermarktet hat. Sirene aus dem Jenseits?
„Das ist mein Sommer“, rufe ich.
Die Frau am anderen Ende der Leitung schweigt. Vermutlich bin ich der Künstler in Moiras Galerie, der sich am schlechtesten verkauft.
Besser gelaunt rufe ich Larissa an und entschuldige mich, weil ich sie wieder versetzt habe. Zwei Minuten später klingelt das Telefon und Silvester fragt, ob er heute bei mir übernachten darf. Ich setze mich ins Auto und fahre los. Als ich ihn abholen will, zieht er mich in sein Zimmer und zeigt mir das neue Terrarium, das Larissas Freund gebaut hat. Polly ist nicht darin, sondern kriecht irgendwo im Zimmer herum. Ich achte darauf, wohin ich trete.
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