# 2: 06. Januar
Nachdem Lysian verschwand und mich auf der Rechnung sitzen ließ, ging ich aufs Klo. Ich setzte mich in eine der beiden Kabinen und starrte meine Schuhe an und die braunen Schlieren auf dem Stück Boden dazwischen. Ich blieb so lange, bis ich mich wieder beruhigt hatte, dann ging ich zum Waschbecken und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Auf dem Weg zurück zum Tisch sah ich ihn, diesmal mit einer anderen Frau. Sie saßen an der Bar und er lächelte mich kurz an, auf eine Art, auf die ich reagieren oder die ich ignorieren konnte, freundlich, aber unverbindlicher als das letzte Mal. Mein erster Impuls war zurückzuwinken und vorbeizugehen, doch dann war mir alles egal und ich ging zu den beiden hin, mit verquollenen Augen, angetrunken, schlimmer geht’s nimmer.
Die Frau kicherte bei allem, was ich sagte auf eine nette, asiatische Art und ich musste auch lachen. Er gab mir eine Nummer, die ich anrufen kann, wenn ich das nächste Mal ‚zu viel Energie’ habe. Ich getraute mich nicht zu fragen, was er damit meinte, aber ich war ihm dankbar, dass er meine Hand berührte, dass er mich anschaute, dass seine Freundin mit mir lachte und dass er mir eine Telefonnummer gab. Obwohl mich das mit der Telefonnummer auch verunsicherte. War es seine? Wohl kaum. Ich bin mir sicher, ich werde nicht anrufen.
Der Polizei erzähle ich, dass sie tatsächlich einmal in meiner Wohnung war, um sich die Bilder anzuschauen. Ich hatte es vergessen. Und vielleicht hatten sich ihre Gesichtszüge so eingeprägt, dass ich sie Wochen später gemalt habe. Das war Zufall. Und das mit dem Auge auch. Auf der Wache zeige ich ihnen das Foto, das ich als Vorlage benutzt habe. Die abgebildete Frau sieht ihr tatsächlich ähnlich. Ich zeige ihnen das Bild des verletzten Auges, „aus dem Internet“. Beide Abbildungen lagen glücklicherweise noch oben auf dem Schreibtisch und ich musste nicht lange suchen. Die Polizisten sehen sich an. Und dann mich. Einer schiebt mit kritischem Blick die Bilder in eine Folie. Ich muss irgendetwas erklären, aber mir ist nicht klar, was genau.
Woher ich meine Inspirationen nehme?
„Ich bin meistens betrunken, wenn ich male.“
Der Polizist nickt mit einem wissenden Blick und ich muss mich zusammen reißen, um nicht wieder mitzunicken. Ich bin wie hypnotisiert. Sie haben mir Blut abgenommen und mich in einen Becher pinkeln lassen. Ich hoffe, sie nehmen mir den Führerschein nicht ab. Der Polizist nickt weiter und öffnet eine Mappe, die vor ihm liegt. Er zieht ein Foto heraus, legt es mit der Vorderseite nach unten auf den Tisch und schiebt es zu mir her. Während ich es aufdecke, beobachtet er mich mit gesenktem Kopf.
Ein Foto von mir und Jesse. Wir stehen an einer Bar, um uns herum Leute. Wir schauen uns an, ich halte mich an einem Bier fest, Jesse gestikuliert mit einer Zigarette in der Hand. Offensichtlich bemerken wir nicht, dass wir fotografiert werden. Ich versuche zu erkennen, in welchem Laden das Foto aufgenommen wurde, aber der Tresen, das Personal und die Leute um uns herum kommen mir nicht bekannt vor. Dann sehe ich die ausgestopften Hirsch- und Wildschweinköpfe hinter dem Tresen. Toms neue Bar. Ich war letzte Woche dort. Langsam schiebe ich das Foto wieder zurück und schaue den Beamten fragend an.
„Kennen Sie das Foto?“
Ich schüttle den Kopf.
„Haben Sie eine Ahnung, warum Ihre Nachbarin dieses Foto hatte?“
„Nein.“
„Wissen Sie, wann es gemacht wurde?“
Ich schüttle wieder den Kopf. Die Schläfen pochen.
„Und wer ist das da?“ Er zeigt auf Jesse.
„Ein Bekannter.“ Ich erfinde einen Namen. „Ich glaube, er lebt inzwischen wieder in Spanien.“
„Sie wissen nicht, wie Frau Narkos zu dem Foto gekommen ist?“
„Keine Ahnung.“
„Sie wissen auch nicht, wo es entstanden ist?“
„Ich kann mich an den Laden ... oder die Situation ...“, ich gestikuliere fahrig in die Richtung des Fotos „nicht erinnern.“
„Und Sie wissen nicht, wer das Foto gemacht hat? Frau Narkos selbst vielleicht?“
Mein Blick fällt auf die Wand hinter dem Kopf des Polizisten. Sie ist gelblich vergilbt und kahl. Am Übergang zur Decke wird sie weiß. Wenn der Beamte den Mund öffnet, haben seine Zähne denselben Ton. Ich schüttle den Gedanken ab.
„Warum sollte sie mich fotografieren? Wir kannten uns kaum.“
Die Polizisten werfen sich einen Blick zu. Sie glauben mir nicht. Der eine fragt weiter. „Wissen Sie, wo wir das Foto gefunden haben?“
Ich hebe die Hände. „Auf ihrem Schreibtisch?“
„Waren Sie schon einmal in der Wohnung von Frau Narkos?“
„Nein.“
„Es gibt keinen Schreibtisch in ihrer Wohnung. Es gibt überhaupt keinen Tisch oder irgendwelche anderen Möbel. Nur eine Matratze. Ist das nicht merkwürdig?“
Der Mann schaut mich an, als könnte ich dieses Rätsel lösen. Ich starre zurück.
„Und neben der Matratze haben wir ein Notizbuch gefunden“, fährt er fort. „Eine Art Tagebuch. Da drin steckte das Foto. Sie wissen nicht, wie es dahin gekommen ist?“
„Vielleicht steht es in dem Notizbuch?“
Der Polizist lehnt sich wieder zurück. „Leider können wir mit den Einträgen nicht viel anfangen. Ein paar Experten schauen sich das gerade genauer an.“
„Was für Experten?“
„Experten für Hexerei und Satanismus.“ Der Polizist lächelt säuerlich.
Ich lächle zurück.
# 3: 14. Januar
Ich weiß nicht mehr genau, wann es wieder angefangen hat, ob der Streit mit Lysian daran schuld ist oder ob die Medikamente nicht mehr wirken. Seit über einer Woche bin ich jeden Abend an dem Punkt, wo es nicht mehr weitergeht. Dann hole ich die Schere. Inzwischen setze ich mich nicht mal mehr in die Badewanne.
Als Lysian das letzte Mal da war, schrie er mich an. Er meinte, er kommt erst wieder vorbei, wenn ich damit aufhöre. Ich gab zurück, dass er gar nicht mehr vorbeikommen muss. Danach ging’s mir zwei Sekunden lang besser.
Nach dem Sex haute er sofort wieder ab und seitdem geht er nicht mehr ans Telefon. Ich habe seine Sachen in einer Plastiktüte gesammelt und stelle mir vor, wie ich sie im Wald verbrenne. Und dann stelle ich mir vor, wie sich mein Leben verändert, wie ich mich endlich wieder mit Sylvia oder Des verabrede, wieder an die Uni gehe, einen Job finde und mit meiner Mutter telefoniere. An dieser Stelle hört meine Fantasie auf und ich rufe ihn zum hundertsten Mal an und atme auf seine Mailbox.
Als ich auf der Straße stehe, fängt es an zu nieseln. Ein warmer, weicher Sommerregen. Ich lege den Kopf in den Nacken und frage mich, warum ich Juliana – oder eine Frau, die ihr ähnlich sieht – in einem Autounfall gemalt habe. Hatte ich mir irgendetwas dabei gedacht? Blöde Frage. Ich denke nie beim Malen. Ich blinzle und fühle, wie der Regen den Hals hinunter ins T-Shirt läuft. Hatte ich an dem Autounfall schon gearbeitet, als sie bei mir war? Hatte ich der Frau nachträglich ihre Züge gegeben? Ich lasse den Kopf nach vorne fallen und sehe, wie Tropfen aus dem Haar in die Jacke perlen. Wenn ich die Augen zusammenkneife, sind die Tropfen bunt, gefüllt mit kleinen, zitternden Tieren. Ich reiße die Augen auf, bevor die Tiere zu groß werden und schüttle den Kopf.
Warum hatte Juliana ein Foto von mir? Fotografierte sie mich heimlich? Gab ihr jemand anderes das Foto? War es das einzige Foto, das die Polizisten bei ihr von mir fanden? Verfolgte sie mich? Ich versuche mir alle Begegnungen mit ihr in den letzten Wochen in den Kopf zu rufen. Verhielt sie sich jemals merkwürdig mir gegenüber? Ich kann mich nicht erinnern. Sie wirkte nicht so, als sei sie interessiert an mir. Wie eine Satanistin wirkte sie auch nicht, aber wer kann das schon beurteilen?
Ich mache mich zu Fuß auf den Heimweg, bis mir der Geruch von letzter Nacht einfällt. Ich will nicht allein sein.
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