Unaufgefordert setzte sich Hanna auf eine der Sitzgelegenheiten und legte auf eine zweite ihre Tasche. Christian nahm grinsend auf dem letzten freien Würfel gegenüber Platz.
„Hat dich das große Shoppingparadies Weilach hierher gelockt, oder konntest du es ohne mich in Rothwald nicht mehr aushalten?“, fragte er sie ganz direkt mit einem Lachen, um seine Ernsthaftigkeit hinter dieser Frage zu verbergen.
„Weder das eine noch das andere“, klagte Hanna ihm ihr Leid mit Harald, wobei sie gewisse Details ausließ.
Dabei kam die ganze Wut von eben wieder hoch, was sie gar nicht wollte.
„Wäre es denn so schlimm, wieder zurückzukommen? Du musst ja nicht bei deinen Großeltern und Harald leben. Du könntest dir eine eigene Wohnung nehmen. Eine Ausbildung wäre nicht verkehrt, aber es muss ja nicht Arzthelferin sein. Obwohl, wenn ich krank bin, könntest du mich gesund pflegen“, versuchte er ihr gute Gründe für eine Rückkehr verständlich zu machen, was sie daraufhin skeptisch schauen ließ.
Christians Worte machten sie noch wütender.
„Habt ihr euch etwa abgesprochen? Ich bin nur zu Besuch hier und werde wieder abreisen“, sagte sie lauter als beabsichtigt.
„Dir scheint es ja richtig ernst zu sein mit deinem Besuch. Ich meine, dass du nicht zurückkommen wirst. Was ich sagen wollte war, ich würde mich sehr darüber freuen, falls du es dir anders überlegst. Wie dem auch sei, du triffst deine Entscheidungen, egal, was andere von dir erwarten. Es ist dein Leben“, lenkte Christian ein und Hanna beruhigte sich wieder.
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht so anfahren“, entschuldigte sie sich.
Hanna holte das Buch aus ihrer Tasche und legte es zwischen sie auf den Tisch.
„Ich habe mir mit deinem Buch heute die Zeit vertrieben. Ich glaube, ich habe auf einem der Bilder meinen Opa entdeckt, auf dem Bild Dorffest 1936 .“
Sie blätterte zur entsprechenden Seite und zeigte ihm ihre Entdeckung.
Christian nahm den Bildband in die Hände und schaute angestrengt auf den Jungen.
„Das Bild ist ein wenig verschwommen.“
„Sieh dir seine Augen an. Das sind die Augen meines Opas.“
Christian tat ihr den Gefallen und schaute ein zweites Mal hin, aber er konnte Hannas Vermutung nicht beipflichten.
„Hast du Hermann das Bild schon gezeigt?“
„Konnte ich noch nicht, das werde ich heute Abend nachholen“, erklärte sie und erzählte ihm von ihrem Gespräch mit Frau Klein.
„Aber wenn sich Frau Klein ganz sicher ist, dass dieser Junge ein anderer ist, wird dein Opa dir das sicher bestätigen“, wollte der Fotograf das Thema beenden.
„Mit Rätselraten komme ich sowieso nicht weiter. Ich werde Opa fragen und meine Antwort bekommen“, beendete auch Hanna das Thema. „Das ist also dein Arbeitsreich. Dein Atelier gefällt mir“, sagte sie, weil sie nach einem neuen Gesprächsthema suchte.
Sie könnte stundenlang mit ihm über den Bildband reden, aber sie hatte das Gefühl, er würde lieber alles über sie wissen wollen.
„Danke. Ich habe das Glück, der einzige Fotograf mit Studio in Weilach zu sein. Das ist ein guter Vorteil. Alle anderen Fotografen arbeiten eher hobbymäßig zu Hause und werden nur für irgendwelche privaten Veranstaltungen gebucht“, erläuterte Christian. „Wie lange bleibst du in Weilach? Falls du bis zum Abend bleibst, kann ich dich nachher mitnehmen. Um halb sieben schließe ich den Laden“, bot Christian ihr an.
Hanna schaute auf die Uhr.
„Es ist erst halb vier und ich wüsste nicht, was ich hier noch drei Stunden machen sollte. Ich werde den Bus um vier Uhr nehmen.“
„Okay. Ich lasse dich unter einer Bedingung gehen. Ich gehe nach Ladenschluss einkaufen, und du kommst um acht Uhr zu mir zum Essen“, verlangte Christian von ihr.
Hanna sah ihn an und erinnerte sich an ihren Plan für morgen. Ein Abendessen wäre eine gute Gelegenheit, sich zu verabschieden. Außerdem wollte er demnächst nach Hamburg kommen, dann würden sie sich ja schon wiedersehen. Hanna ging auf sein kleines Spiel ein und stellte ebenfalls eine Bedingung.
„Ich habe noch Fragen zum Buch, die musst du mir aber dann beantworten“, forderte sie nun von ihm ein.
„Einverstanden. Du kommst um acht Uhr zum Essen und anschließend beantworte ich deine Fragen“, willigte er ein.
Hanna verabschiedete sich mit einer kurzen Umarmung von ihm und verließ den Laden unter Glöckchenklingeln.
Christian sah ihr so lange nach, bis sie um die nächste Ecke verschwunden war. Während er ihr nachschaute, fragte er sich, warum sie sein Fotobildband so sehr interessierte. Sie hatte doch die Flucht aus Rothwald ergriffen, und ihr jetziger Aufenthalt sollte doch nur ein kurzer Besuch sein. Niemand der Rothwälder hatte je so großes Interesse am Buch gezeigt wie sie. Jede Familie hatte es gekauft, damit sie es hatten. Aber nicht, um sich mit ihren Wurzeln auseinander zu setzen.
Hanna war für ihn schon immer geheimnisvoll gewesen. Er hatte sich oft gefragt, wer sie wohl wirklich war. Das wollte er herausfinden und ihr Treffen am Abend sollte ihm dabei helfen, ihre Geheimnisse zu lüften. Und wenn es einen Umweg über das Buch bedeutete, sollte es ihm recht sein. Er wollte Hannas Herz gewinnen. Und wenn sie es in Rothwald verlor, hatte sie einen triftigen Grund, nach Hause zurückzukommen.
Ich bin der Einzige von uns Jungen, der noch zur Schule gehen darf. Mein Klassenwechsel nach dem vierten Schuljahr ist nicht so unproblematisch wie bei den anderen Kindern. Die Schulbehörde verlangt eine ärztliche Bescheinigung über meinen Gesundheitszustand. Es muss bei mir die vererbte Krankheit von Großvater Kurt ausgeschlossen sein. Die Volksgesundheit darf in der Schule nicht durch schwachsinnige oder verkrüppelte Kinder gefährdet werden. Nur noch gesunde deutsche Kinder dürfen zur Schule gehen und lernen.
Alles muss auf deutsche Richtigkeit überprüft werden, sogar wir Menschen. Die Schule in Rothwald hat mittlerweile ein Drittel weniger Schüler. Nicht alle Kinder entsprechen der deutschen Norm, so wie meine Brüder.
In jedem Unterrichtsfach müssen wir lernen, dass nur wir Deutschen die besten Menschen sind. Niemand ist uns Ariern ebenbürtig. Damit wir nicht nur geistig stark sind sondern auch körperlich, ist der Turnunterricht mit allen Fächern gleichzustellen.
Zu Beginn jeder Turnstunde haben wir unsere ersten Pflichtübungen zu machen, die jedes Mal von einem anderen Schüler angeleitet werden. Hierbei nimmt mich Lehrer Hölting genau unter die Lupe. Er notiert sich nach jeder Übung etwas in sein schwarzes Büchlein über mich. Ich weiß genau, dass er sich nur Notizen über mich macht, denn seine Blicke gelten ausschließlich mir. Meine Mitschüler wissen das auch, und deshalb möchte niemand mehr mit mir befreundet sein. Wer auffällig ist, von dem hält man sich lieber fern.
Meine Idee, dem Jungvolk beizutreten, handelt mir nur eine heftige Ohrfeige meines Vaters ein. Mit den braunen Verbrechern dürfen wir uns nicht einlassen. Außerdem würden sie mich wegen meiner Brüder sowieso nicht aufnehmen. Ich muss mich von den Braunhemden fernhalten, sonst bekommen wir nur Schwierigkeiten.
Ich gehöre zu niemanden mehr. Wenn ich nicht in der Schule verspottet werde, passiert es im Dorf. Und zu Hause lebe ich im ständigen Streit mit meinen Brüdern. Vater und Mutter sind nur mit sich und ihrer Arbeit beschäftigt.
Meine Brüder leiden sehr unter dem Schulausschluss und hegen deshalb einen großen Hass auf mich. Ich darf weiter zur Schule gehen und lernen- sie nicht. Sie verstecken meine Schulsachen oder verbrennen meine Hausaufgaben. Sie machen alles heimlich, damit Vater und Mutter nichts mitbekommen. Ich glaube, sie hassen sie auch, weil sie sich dem Ganzen fügen. Sie kämpfen nicht gegen die Ungerechtigkeit an, die ihren Söhnen widerfährt.
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