„Wo habt ihr denn dann gewohnt? Hat Opas Familie euch aufgenommen?“, fragte Hanna weiter. Zwischen ihren Großeltern schien gerade etwas zu passieren, was sie merkwürdig fand. Kurze, starrende Blicke schienen eine Geschichte zu erzählen, für die es keine Worte brauchte.
„Ich hatte eine Tante, sie war die Schwester meines Vaters. Sie lebte damals mit ihrer Familie in Grünfeldt. Sie hat uns bei sich aufgenommen, bis wir wieder ein eigenes Zuhause hatten. Mein Onkel hatte ein kleines Lokal, in dem mein Vater arbeiten konnte, deshalb sind wir dann in Grünfeldt geblieben. Opa und ich haben uns irgendwann wiedergetroffen und haben geheiratet. So war das damals“, endete Trude ihre Erzählung und machte mit einem gewissen Unterton deutlich, dass dies wohl das Ende ihrer Geschichte sei.
Die Erklärung klang für Hanna plausibel und das meinte Christian wohl damit, dass ihre Großmutter nicht von hier sei. Aber die Erinnerung an die Blicke, die sich eben zwischen den beiden ereignet hatten, räumte den Zweifel nicht wirklich aus. Ihre Oma war sehr hartnäckig, wenn sie etwas wollte. Ihre überraschenden Fragen hatten Trude aus dem Gleichgewicht gebracht. Hanna sah ihr an, dass sie keine weiteren Fragen mehr beantworten würde und beließ es dabei. Auf zukünftige Fragen war ihre Oma nun vorbereitet, und sie würde wohl nicht mehr so redselig sein wie heute. Bei einer sich bietenden Gelegenheit würde sie ihren Großvater noch mal fragen.
Inzwischen war Trude mit ihren Kartoffeln zur Spüle gegangen und wusch sie ab, wobei sie sehr beschäftigt tat. Hermann verabschiedete sich für einen Spaziergang und Hanna blieb allein am Tisch zurück. Ihr Kaffee war nur noch lauwarm und das Käsebrot unberührt. Sie tat das, was sie bereits eben tun wollte- frühstücken. Schweigend widmete sich Hanna ihrem Kaffee und dem Brot und beobachte ihre Großmutter beim Zubereiten des Mittagessens.
Bei jeder Bewegung knarrte die Bank und erfüllte die Küche mit einem unmelodischen Singsang. Die bunten Blumen auf den Bankkissen hatten durch das jahrelange Waschen ihre kräftigen Farben verloren und boten nur noch einen tristen Anblick auf dem braunen Hintergrund. Das hatte sich bis heute nicht geändert.
Hanna war erleichtert, dass sie vor ihrem Einzug selbst über die Einrichtung ihres Zimmers entscheiden konnte. Das Haus ihrer Großeltern hatte schon immer einen kühlen Eindruck auf sie gemacht. Richtig wohl hatte sie sich hier nie gefühlt. Es ist nie ein Zuhause für sie geworden. Wenn sie von diesem Zuhause sprach, hatte es für sie nie die Bedeutung, wie die ihrer Wohnung in Hamburg. Sie war nach dem Verlassen ihres Elternhauses vor fast zehn Jahren ihr richtiges Zuhause geworden.
Außer einem neuen Anstrich gab es absolut keine Veränderung im Haus. Die kalte, weiße Farbe strömte in jedem Raum von den Wänden und frischte seine Krankenhausatmosphäre auf. Sie waren schneeweiß und ließen die alten Bilder an sich eher wie einen Makel erscheinen. Auch die dunklen, wuchtigen Eichenmöbel bildeten einen unnatürlichen Kontrast. Harald und seine Eltern schien es nicht zu stören. Ihre Unnahbarkeit bildete in diesem Hause eine Stimmigkeit mit seinem Inventar. Dieser Gedanke ließ eine Gänsehaut auf Hannas Armen entstehen, und sie musste sich bei dem plötzlichen Kälteanflug kurz schütteln.
Schweigend räumte sie ihr Geschirr ab und stellte es in die Spülmaschine. Trude tat noch immer sehr beschäftigt. Hanna ließ sie mit ihren Kartoffeln und dem Blumenkohl allein in der Küche zurück. Jede Minute, die sie für sich in diesem Haus hatte, war eine Wohltat. Sie war noch keine vierundzwanzig Stunden hier und fühlte sich, als ob sie eine Woche durchgearbeitet hätte. Familienleben war anstrengend, und insgeheim hoffte sie, dass sich dieses Opfer am Ende auszahlen würde.
Im Esszimmer lag ihr Fotobildband noch an der gleichen Stelle, wo sie ihn gestern Abend zurückgelassen hatte. Bis zu ihrem Besuch bei Christian konnte sie ihm nichts abgewinnen. Mit seinen Erzählungen hatte er es geschafft, ihr Interesse für Rothwalds altes Dorfleben zu wecken.
Sie nahm ihn vom Tisch und ging damit in ihr Zimmer. Sie wickelte das Geschenkpapier erneut ab und knüllte es zu einer unförmigen Kugel zusammen, die sich knisternd ausdehnte, als Hanna es wieder aus ihren Händen in die Freiheit entließ.
Das schwere Buch hatte einen cremefarbenen Einband, auf dem ein altes Foto das Zentrum des Dorfes darstellte. Die Kirche und der Dorfplatz waren deutlich zu erkennen. Es war eine Luftaufnahme, die die einzelnen Häuser der näheren Umgebung jedoch nicht so deutlich zum Ausdruck brachte. Zudem zeichnete sich ab, wie klein Rothwald einmal gewesen war. Über dem Bild stand in einer alt aussehenden Schrift: Rothwald 1910 - 2010.
Hanna vermisste Christians Namen auf dem Buchcover und blätterte die ersten Seiten durch. Am Anfang war das gleiche Bild noch einmal abgebildet, und hier stand unter dem Titel der Zusatz:
zusammengefasst von Christian Nölle.
Mit ihrem Zeigefinger fuhr sie den Namen mehrmals entlang und dachte an den gestrigen Abend zurück. Stolz und begeistert erzählte er ihr von seiner Arbeit an diesem Buch. Sie lernte an ihm eine neue Seite kennen, die eines guten Erzählers. In die scheinbar langweiligsten Familiengeschichten legte er so viel Spannung, dass es nicht möglich war, abzuschweifen. Sie hing an seinen Lippen und war ein wenig enttäuscht, als er die letzte Geschichte aus seinem Bildband beendete.
Hanna blätterte Seite für Seite des Buches durch und ließ die dazugehörigen Geschichten Revue passieren. Gestern Abend, im Licht des Feuerscheins, konnte sie nicht jedes Detail auf den Bildern erkennen. Heute bei Tageslicht entdeckte sie noch das eine oder andere auf den Fotografien: Häuser im Hintergrund und Menschen, die sie auf den ersten Blick nicht als solche erkannt hatte.
Von den ersten vierzig Jahren gab es nicht viele Bilder. Und ab etwa neunzehnhundertfünfzig die meisten. Aber ab Anfang der dreißiger Jahre bis Ende der vierziger gab es so gut wie keine. Das fiel Hanna erst beim zweiten Durchsehen auf. Sie schob es auf das schwarze Kapitel deutscher Geschichte. Diese Zeit wollten die Rothwälder wahrscheinlich genauso vergessen wie alle anderen auch. Sie wollte Christian bei Gelegenheit nach diesem Teil des Buches fragen. Das wäre ein Grund, ihn wiederzusehen.
Bei genauer Betrachtung der Häuser konnte sie feststellen, dass ein Teil von ihnen heute noch genauso in Rothwald existierte. Sie hatten nur einen neuen Anstrich bekommen, und das Drumherum war etwas verändert. Bei den meisten Schnappschüssen der Personen standen Namen, und wenn sie an die Familienmitglieder von heute dachte, meinte sie Ähnlichkeiten zu sehen.
Bei einer Familie wusste sie sofort ohne Zweifel, wer diese war. Unter dem Kurzhaarschnitt der Männer kamen ganz deutlich die großen Ohren zum Vorschein. Ebenfalls wie die zu klein geratenen Nasen waren sie ihr Familienerkennungsmerkmal. Die Mitglieder der Familie Hölting waren nicht zu verkennen, insbesondere die männlichen.
Auf dem Foto waren Anton, Erwin und Josef mit ihrem Vater Wilhelm. Da die Mutter nicht auf dem Bild zu sehen war, vermutete Hanna, sie habe das Foto gemacht. Rechts im Bild war ein Teil der Hausecke abgelichtet, und auf der Erde davor kauerte ein kleines Mädchen. Hanna überlegte, ob es ihre Schwester sei, doch sie konnte sich nicht daran erinnern, von einer Schwester der Hölting Brüder zu wissen.
Bei den Menschen, zu denen sie keine Verbindung hatte, fragte sie sich, wer sie waren oder was aus ihnen geworden war. Vielleicht erlitten sie ein ähnliches Schicksal wie die Familie ihrer Oma. Oder sie überlebten den Krieg und waren inzwischen altersbedingt eines natürlichen Todes verstorben.
Ein Foto im Buch fand Hanna sehr interessant. Es war auf dem Dorfplatz aufgenommen worden. Unter dem Bild stand der Vermerk: Dorffest 1936. Im Gegensatz zu den anderen Fotos war auf diesem hier der alte Dorfplatz sehr gut zu sehen.
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