Rebecca Hünicke
Einmal Mondstern und zurück
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Inhaltsverzeichnis
Titel Rebecca Hünicke Einmal Mondstern und zurück Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Impressum neobooks
Prolog
Sie hat ihre Entscheidung getroffen. Sie sieht alles so klar vor Augen. Die nächsten Schritte, wie sie sie einen nach dem anderen durchführen wird. Sie weiß genau, welcher Schritt der letzte sein wird und sie hat keine Angst davor. Es ist eine Selbstverständlichkeit wie morgens nach dem nächtlichen Schlaf aufzuwachen. Angst verspürt sie keine. Ihre Sehnsucht nach einer neuen Unendlichkeit wird gleich erfüllt sein. Sie freut sich darauf, fiebert ihrem neuen Leben entgegen und möchte es jetzt gleich ergreifen. Sie weiß, sie muss geduldig sein und noch eine kleine Weile warten, nur eine kleine Weile.
Sie ist stark und sie kennt ihren Weg. Sie sieht ihn schon so lange vor sich und sie ist ihn fast bis zum Ende gegangen. Die letzten kleinen Schritte liegen vor ihr. Es sind die schwierigsten und die mühseligsten. Sie hat die Kraft, sie weiß es und sie muss nicht mehr kämpfen.
Ein letztes Lächeln. Ihr letztes Geschenk an ihre alte Welt. Ihr Atem geht schneller und sie fühlt sich zittrig. Sie ist bereit. Jetzt spürt sie, dass der letzte Moment gekommen ist.
Sie fühlt sich schwer und ihre Beine wollen sich nicht mehr so recht bewegen, wie vor einem Augenblick noch. Für einen kleinen Moment überkommt sie Zweifel. Ihr Herz rebelliert und sie hat das Gefühl es zerreißt sich, um in jeden Winkel ihres Körpers zu flüchten. Jede Faser schreit nach Leben. Es schlägt wild um sich und drückt und zieht. Sie denkt, jeder Schmerz, den sie erfährt, sei durchlebt, es gäbe keinen schlimmeren mehr. Aber da irrt sie sich.
Dieses Empfinden kennt sie noch nicht. Wie sollte sie auch, es ist doch das letzte, das endgültigste von allen. Auf ihren Schultern spürt sie eine wohlige Wärme. Er ist gekommen. Er ist wirklich da.
Sie hat ihn so oft angefleht ihr zu helfen, sie nicht im Stich zu lassen. Sie hat mit ihm gehadert, ihn verflucht und geliebt. Sie hat um seine Freundschaft gebuhlt und sich nach ihm gesehnt.
Er erhört sie und lässt sie nicht im Stich. Sie hat es sich so sehr gewünscht, nicht allein zu gehen. Nun ist er da.
Durch seine sanfte Berührung spürt sie einen leichten Druck, der sie durch die letzten Schritte führt. Sie kann ihn nicht sehen, denn er ist hinter ihr. Sie spürt seine allgegenwärtige Macht, aber keine Gestalt. Sie spürt eine Woge von Wärme, die sie einhüllt und festhält. Diese Wärme ist so stark, dass sie sich in ihre Hände begibt.
Es ist so leicht für sie die Augen zu schließen und den letzten Atemzug entweichen zu lassen.
Teil I
Sommer
Eigentlich sollte Mama schon längst da sein. Noch nie hat sie sich verspätet. Nur einmal, aber da hat sie im Sekretariat bei Frau Bienkopf angerufen. Die Sekretärin hat uns dann Bescheid gegeben, dass Mama sich verspäten wird.
Es war ein Tag vor Solveighs Geburtstag. Solveigh hatte sich ein Kuscheltier gewünscht, einen Hasen. Der war ihr größter Wunsch. Mama hatte schon in vielen Geschäften nach ihm gesucht. Entweder hatten sie ihn nicht oder das Bestellen dauerte zu lange. Nach langem Suchen hatte Mama ihn in einem Laden gefunden, dafür musste sie über eine Stunde mit dem Auto fahren.
Niemand kann Solveigh etwas abschlagen. Sie ist ein kleiner Sonnenschein. Jeden Morgen wacht sie mit einem Lächeln im Gesicht auf und ist auf den neuen Tag gespannt. Am liebsten mag sie es, wenn die Sonne sie begrüßt und ihr einen schönen Tag wünscht. Aber sie liebt auch Regen. Alle Tiere und Pflanzen seien durstig, genau wie wir Menschen. Sie freut sich dann darüber, dass sie nicht verdursten müssen.
Mama muss jeden Morgen ihre goldenen Locken bändigen und ihr einen oder zwei Zöpfe binden. Solveigh sagt ihr vorher wie viele Zöpfe sie möchte, weil es für sie immer einen Grund gibt, warum einen oder zwei. An warmen, sonnigen Tagen trägt sie gerne zwei, damit sich Zitronenfalter darauf niederlassen könnten. Dann hätte sie wunderschöne Haarspangen. Einen Zopf macht Mama ihr, wenn es praktisch sein soll oder, wenn Solveigh einen Nachdenktag hat. Zwei Zöpfe brächten ihren Kopf dann zuviel in Bewegung und lenkten sie ab.
Heute hat meine Schwester zwei Zöpfe. Beim Balancieren auf dem Schulhof schwingen ihre Zöpfe hin und her. Sie spielt Ballerina und bewegt ihre Arme elegant dazu. Am Ende des Balkens beugt sie ihren Oberkörper nach vorne und streckt ein Bein nach hinten. Ihr weißes Kleid, dessen Rock in Stufen abgesetzt ist, lässt sie in diesem Moment wie ein Engel aussehen. Ihre gerade Haltung drückt ihre Anmut aus und die Sonnestrahlen unterstreichen ihre Schönheit. Es ist wie auf einer Bühne, wenn der Star in einem bestimmten Moment durch ein Licht in den Mittelpunkt gebracht wird, um so besondere Aufmerksamkeit zu bekommen. Jetzt ist sie nicht Solveigh, sondern eine Prinzessin. Ihre blauen Augen leuchten wie Saphire in der Sonne und geben diesem Augenblick den letzten Schliff.
Frau Bienkopf erscheint auf dem Schulhof. Über ihrer Schulter hängt ihre grüne Umhängetasche, die sie jeden Tag mit zur Schule bringt. Sie lächelt mich an und bringt meiner Schwester ein Strahlen entgegen. „Ihr zwei seid ja noch da? Ich dachte, eure Mutter wäre inzwischen gekommen.“ Ich verneine durch ein Kopfschütteln. „Ich sage Frau Kersting von der Betreuung Bescheid, dann könnt ihr dort auf sie warten. Ihr ist bestimmt etwas Wichtiges dazwischen gekommen und kann gerade nicht anrufen“, versucht Frau Bienkopf uns zu erklären. „Ich spiele gerne Ballerina, Frau Bienkopf. Ich spiele so lange, bis Mama kommt.“ Die Sekretärin lächelt Solveigh zu und geht zurück ins Schulgebäude.
In meinem Bauch rumpelt es. Ich habe das Gefühl auf die Toilette zu müssen, aber es ist nur ein Gefühl. Wenn ich an Mama denke, schlägt mein Herz ganz schnell und ich bekomme nicht mehr so gut Luft, als ob ich gerade schnell gerannt wäre. Ich schaue meine Schwester an und freue mich über ihren Anblick. Das Warten scheint ihr nichts auszumachen. Sie spielt einfach Ballerina und nutzt die Zeit zum Üben. Ich höre unbekannte Stimmen. Ich schaue zum Hofeingang. Ein Mann und eine Frau kommen auf mich zu gelaufen. Ihre Gesichter sind ernst und sie flüstern mehr, als dass sie richtig mit einander reden. Obwohl sie auf mich zugehen, beachten sie mich gar nicht. Der Mann öffnet die Eingangstür und hält sie der Frau auf. Sie geht hindurch und er schließt sich ihr an.
Ich schaue auf meine Uhr. Es ist bereits zwei Uhr. Mama hat sich bereits eine dreiviertel Stunde verspätet. Was macht sie nur? Das Warten in der Sonne macht mich durstig. Ich nehme meine Wasserflasche aus meiner Schultasche und trinke einen Schluck. Das Wasser ist bereits warm und schmeckt nicht mehr. Ich gehe zu Solveigh und halte ihr meine Flasche hin. „Ich habe keinen Durst.“ „Trink auch etwas! In der Sonne ist es so heiß. Nachher hast du wieder Kopfschmerzen, weil du nichts getrunken hast.“ „Also gut, aber nur einen Schluck.“ Solveigh nimmt meine Flasche, die ich ihr noch entgegenhalte. Sie setzt die Flasche an den Mund. Das Wasser hat kaum ihre Lippen berührt, da verzieht sie auch schon das Gesicht. „Das ist ja warm. Das Wasser schmeckt scheußlich. Ich will das nicht trinken.“ Sie hält mir die Flasche wieder hin. Ich weiß, ich brauche gar nicht mit ihr zu diskutieren. Meine Schwester weiß immer was sie will.
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