Betreten von diesem Eindruck kommt Isa der Besuch wie Bettelei vor, wie ein Heischegang, wie ein Raubzug gegen kostbare Beamtenzeit. Plötzlich fühlt sie sich sonderbar unwichtig.
»Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen. Als Autor braucht man direkte Kontakte«, sagt sie merkwürdig zögernd in das nickende Gesicht. »Die Stimmung. Die Menschen. Das ganze Für und Wider. Bevor ich anderswo das echte Leben erforsche, möchte ich unbedingt die tatsächlichen Bedingungen dieser Stadt erfragen.«
Frau Deichmann verweist mit Kennermiene auf ihr Pamphlet.
»Wir sind sehr gut aufgestellt. Seit Jahren haben wir keine Kältetode zu beklagen. Die enge Vernetzung schließt aus, dass jemand durchs Raster fällt.« Sie schlägt die Augen nieder und zupft an ihrem dunklen Haar. »Es sei denn, er will keine Hilfe.«
Garys Worte komme in ihren Sinn: Jeder Mensch hat ein Recht, so zu sein, wie er selbst es möchte. Gary, der Pragmatiker.
Die Frau erhebt sich wortlos und geht zur Tür.
»Frau Weber, bitte mal die Telefonnummer von Herrn Pracht.«
Kurz darauf reicht sie Isa einen kleinen Zettel mit einer Nummer und redet, als ob sie selbst sehr gern an einem Buch über ihre Klientel schreiben würde.
»Gehen Sie unbedingt zum Obdachlosenhaus beim Deutschen Roten Kreuz. Und zum Straßen-Café. Dort finden Sie viele Betroffene. Nicht alle sind obdachlos. Es gibt auch von denen ohne ständigen Wohnsitz nicht wenige, die unsere Angebote annehmen. Vielleicht erfahren Sie dort, was sie noch wissen möchten.«
Was will sie wissen? Was mit einem von denen geschehen ist. Warum einer, der Goethe liest, auf der Straße lebt. Warum einer, der Wissen hat, nichts wissen will. Was also will sie im Straßen-Café, was in der Notschlafstelle? Dort wird sie ihn genauso wenig finden und noch weniger überzeugen können, mit ihr zu reden.
Das letzte Mal, als sie ihn gesehen hat, kam das Gefühl, er würde es ja wollen, traue nur keinem Menschen mehr. Sie will sich bemühen, weil ihr gefällt, was sie ahnt. Ob der Mann, über dessen Schicksal sie in Leidenschaft verfällt, an seiner Lage unschuldig ist, interessiert sie nur nebenbei. Sie will die Misere eines Lebens erforschen, das einmal ein anderes war. Ein Mensch, der einsam seiner Wege geht, keinem zu nahe kommt, der Bücher liest und Goethe zitiert. Vielleicht wird er dafür von den Mitschläfern in der Notschlafstelle genarrt?
Für sie wird das Schreiben über einen solchen Menschen nicht schwer sein. Es wird sie erbauen, ergötzen, befriedigen …
Diese Leidenschaft kennt sie bestens von jenen Stunden, in denen sie mit weiblichem Instinkt Geschichten schreibt, die das Leben diktiert. Nicht ihr Leben. Das Leben derer, die kein Glück, kein Ruhm, kein Lorbeerkranz schmückt.
So oft sie ins Gesicht dieser Frau schaut, spürt sie, wie etwas in ihr hochsteigt, das sie so niemals als einen Teil von ihr anerkannt hätte. Jetzt aber ist sie Teil eines Systems geworden, das das eigene Interesse über alles stellt. Ihr Vorteil schöpft aus dem Nachteil eines Anderen. Dieser Nachteil ist ihre Chance für ein neues Buch. Ein Déjà-vu? Alles wiederholt sich. Isa kämpft gegen innere Untertöne an. Auch wenn es de facto so ist, seelenlos war sie nie. Tatsächlich ist sie für diesen Job mit zu wenig gebotener Härte ausgestattet.
Noch lange an diesem frühen April-Tag tobt tief in ihr der Kampf einer sozial Mitfühlenden gegen die wirtschaftlich Denkende. Es war nie das Geld, das sie dirigierte. Es sind ihre Wurzeln, in denen sie sich verfängt. Und es gibt diesen eigenen Schatten, über den zu springen sie nicht gut genug trainiert ist; die bleierne Schwerkraft ihrer armseligen Herkunft.
Sein Weg zum Zentrum hin führt durch die Ostrower Straße, wo die herausgeputzten Fassaden der Bürgerhäuser vom einstigen Reichtum dieser Stadt künden. Für Sekunden bleibt Felix Renner stehen und blickt hinauf. Zum ersten Mal gehen auch seine Gedanken bis zu den Reliefs, zu den Traufen und Pilastern. Er hat sein Gefühl für alles Schöne versiegelt, wie auch für so vieles andere. Was hat sich ereignet, dass er in diesem Moment die Welt mit helleren Augen betrachtet?
Nichts ist geschehen. NICHTS. Nur die Neugier einer Schreiberseele hat ihn für kurze Zeit über sich selbst grübeln lassen. Manchmal muss man etwas aufgeben, um für etwas anderes frei zu sein.
Er wendet seinen Blick ab von den Farben, den Stucks und den Fenstern, hinter denen glückliche Menschen leben. Und unglückliche, er ist ja kein Träumer.
Was heute in ihm ist, hat mit der Frau nichts zu tun. Nicht im Geringsten! Es gab zwar diesen Satz von ihr, der geeignet wäre, jemanden zu bekehren: Leben ist Veränderung. Kein Mann wirft achtlos weg, worum er kämpfen kann.
Jemanden vielleicht, er nicht. Er mochte, wie sie das sagte. Wenn sie nur nicht die Sache mit seinem Vorteil ins Feld geführt hätte. Da musste er wütend werden, das hat die Zeit ihn gelehrt. Es war kein geistreicher Satz, wenn auch mit Schärfe gesprochen.
Er wendet sich ab von den aufdringlichen Gedanken, die er — merkwürdig unschlüssig — nicht bis zur letzten Konsequenz bedenkt.
Am Ende der Straße ein Haus, das aus der Reihe fällt. Grauer Marmor und viel Glas. Hier liegt das Geld der Leute. Südwärts sieht man den Anbau wachsen. Ausladend. Einnehmend. Alles scheint vollkommen. Nichts ist einzuwenden. Jeder kann es sehen. Die Macht des grauen Hauses mit der spiegelglatten Fassade wächst unaufhörlich. Die großen Banken operierten mit weltweiter Gier und obskuren Kniffen. Sie merkten zu spät, wie sie im Gegenwind der Macht des Mammons zu schwanken begannen.
Sein Geld liegt nicht in diesem grauen Haus, und es lag auch niemals dort. Bevor er sein Haus hat bauen können, vierzig Kilometer von hier, musste er betteln um einen kleinen Kredit. Nicht einmal jetzt muss er betteln. Jetzt ist er frei von diesen Zwängen. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan.
Er schwenkt nach rechts und läuft der Fußgängerzone zu, die vom dicken Turm bewacht wird.
Plötzlich bleibt er stehen. Etwas fühlt sich neu an. Vor dem gelben Haus auf dem kleinen Platz steht ein Brunnen auf den Marmorplatten — ein steinerner Kelch. Darauf erhebt sich eine kleine Venus aus einer Gruppe Wasser speiender Delfine. Warum hat er die Venus, warum die kleinen Delphine noch nie bemerkt? Jetzt denkt er darüber nach, warum sein Fühlen so stumpf geworden ist. Leben ist Veränderung , ärgert er sich. Aber die Veränderung, die diese Frau herbeiführen will, besteht nur im Vorzeichen, nicht im Inhalt.
Was ihr Buch betrifft, so weiß er nicht genau, warum er davon nichts hält. Vielleicht, weil er ein selten dämliches Arschloch ist. Vielleicht, weil er zu klug ist für die Fäden einer Spinne. Freilich hätte er ihr erklären können, dass ihre hastigen Worte ihn nicht überzeugt haben. Vielleicht könnte er sagen, warum ihre Zeilen, die er gern gelesen hat, es besser konnten. Er kann nicht aus seiner Haut und lässt es auch in Zukunft bleiben. Er wird ihr aus dem Wege gehen, grundsätzlich. Mit Hoffnung spielt man nicht.
Wäre er früher einem bestimmten Menschen aus dem Wege gegangen, ihm wäre eine bittere Erfahrung erspart geblieben.
Dass er gar zwei Menschen hätte meiden müssen, fällt ihm wieder ein. Genau genommen drei.
Drei ausgestreckte Finger krallen sich wieder ein, die Hand wird zur Faust: In Deutschland kann jeder jeden anschmieren. Woher sollte er den Beweis nehmen? Keiner, der den Rang dafür hätte, macht sich die Mühe, die Wahrheit herauszufinden.
Sein Weg führt am Turm vorbei. Auf dem Platz gegenüber hat man Tulpenrabatten angelegt. Die sanften Strahlen der Vormittagssonne wärmen nicht nur die Blüten. Sie wärmen auch ihn, auch das nimmt er heute wahr. Und wie aus dem Nichts fällt ihm ein, warum er den kleinen Brunnen nicht hat sehen können. Er war geschützt vor den Tücken des Winters, ummantelt mit einer hölzernen Pyramide. Grün?
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