»Wichtig ist immerhin, dass sie herauskommen aus ihrer Beziehungslosigkeit.«
»Nicht alle sind beziehungslos. Wichtig ist der sichere Ort im geschützten Rahmen. Hier ist es egal, was einer hat. Hier sind alle gleich.«
»Sind die Menschen der Stadt spendenfreudig?«
»Zu Geld kann ich nichts sagen. Da müssen sie einen von den Chefs fragen. «
Die Frau windet sich, will auch nicht unhöflich sein. Womöglich hat sie sich schon viel zu weit geöffnet. Es gibt Bereiche, da dürfen die Angestellten keine Auskünfte geben. Das kennt Isa.
»Hauptsache sie spenden überhaupt.«
»Man muss schon einfallsreich sein; auf Feste gehen und Empfänge. Da traut sich niemand abzulehnen. Die meisten scheren sich in Wahrheit um keinen von uns…«, sagt die Frau so kleinlaut, als sei nun genug gesagt. Sie vollendet nicht, ist resigniert, doch sie begnügt sich zu lächeln. Das uns kommt Isa befremdlich vor, aber darüber nachzudenken, gestattet sie sich nicht. Sie fühlt sich getroffen von einfachen, wahren Worten. Sie selbst windet sich um so manche Spende — bei den Bettlern aus Rumänien spürt sie keine Skrupel, da kennt sie den wahren Hintergrund und will der Kriminalität, die Skrupellose auf die Haut Hilfloser pflanzen, kein Gedeihen mehr geben. Diese Frau vor ihr aber sollte mit Freude bei der Sache sein, einer Sache ohne Eigennutz. Einer Sache, die das Unrecht glättet. Ein wenig, immerhin.
Trotz ihrer Reden scheint sie gerade ein gutes Stück abgerückt von der Welt um sie herum. Gerade so, wie Vagabundo — nur eben in eine andere Welt entrückt, als in seine Welt der schönen Worte.
»Sie gehören nicht zur Stadt?« Das kleine Holzkreuz am Tresen hat Isa zu dieser Feststellung inspiriert. Ihr Blick in die Augen der Frau verrät sofort, wie unklar sie ist. Warum sollte das Haus nicht zur Stadt gehören. »Ich meine zur Stadtverwaltung. Unterstehen nicht dem Sozialamt.«
»Nicht wirklich«, die Frau schaut auf die kleine, zerkratzte Uhr an ihrem Handgelenk. Es kann sein, die Leute sind total unterbezahlt. Es kann aber auch sein, die Frau hält ihre Erscheinung künstlich so bescheiden, angesichts der Typen um sie herum. Vorsicht ist immer geboten.
»Wir gehören zum Diakonischen Werk, aber …«
Diakonie also. Dann ist man hier zur Nächstenliebe tauglich. Isa befürchtet, man muss erst den Nachweis erbringen, Mitglied der Kirche zu sein, bevor man Hilfe erfährt. Wer würde dann hier sitzen? Vermutlich dieselben Leute. Was ist es, was die Menschen in den Bann der Kirche zieht: Barmherzigkeit. Hingabe. Wohltätigkeit. Güte. Liebe. Menschlichkeit. Liegt das alles nicht in jedem von uns?
Was nach dem aber der Frau kam, hat sie in ihrem Grübeln leichtfertig verpasst. Noch einmal nachzufragen, hütet sie sich.
»Kennen Sie alle, die hierher kommen, persönlich?«
»Über Zweihundert kann man nicht persönlich kennen. Aber wir wissen ziemlich viel.«
Zweihundert verschiedene Menschen also. So wird die Rechnung stimmig, die mit zwanzig pro Tag und 280 pro Jahr niemals aufgegangen wäre.
»Wissen Sie, ob einer darunter ist, der gerne Bücher liest? So richtige, klassische…?«
Die Augen der Frau huschen zur Decke und dann zurück auf Isas Gesicht. »Warum soll es keinen unter den Leuten geben«, sagt sie nach langem Überlegen, doch ihr Kopf bekräftigt die Worte, derer sie sich innerlich rückversichert hat.
»Vielleicht kennen Sie einen, der … immer allein ist?«
»Hier sind viele allein. Aber da gibt so manch einen Alleinstehenden, der ganz offensichtlich Kontakte meidet.«
Sie überlegt, wie weit sie noch gehen darf. Keine Frage, Isa ist sicher, sie überfordert die junge Frau.
»Einer von denen kommt immer erst, wenn wir bald schließen. Wahrscheinlich hat der Probleme mit sich…« Ihre Geste drückt nicht freundlich aus, was sie meint, aber im Grunde hat sie wahrscheinlich Recht. Auch Vagabundo hat offenbar Probleme…
»Oder mit den anderen?«
»Wer weiß das so genau. Meinen Sie, unter denen gibt es nur Friede-Freude, weil sie alle dasselbe durchmachen. Ich weiß, wovon ich rede.«
Diese Bemerkung der Frau hebt ihre frühen Worte von der Gleichheit wieder auf. Isa will höflich bleiben. Auch zeigt sie nicht das geringste Anzeichen von Neugier, obwohl sie inzwischen alles interessiert, was mit denen zu tun hat, die sie vor der Frau Betroffene nennt, wo es doch den Kern nicht trifft. Wovon betroffen? Von Armut, weil die Arbeit nicht reicht? Von Wohnungsnot, weil das Geld fehlt? Von Mutlosigkeit, weil vom Leben geschlagen? Von Strafe, weil sie gestrauchelt sind in den Wirren der Zeit? An nichts davon darf sie denken. Im Grunde ist sie zu zart besaitet, um sich so ruhelos in dieses Thema zu stürzen.
»Die Welt ist brutaler geworden, kälter. Die im Licht wollen die Schattenseiten nicht sehen. Deshalb will ich darüber schreiben…«
Weiter muss sie sich nicht erklären. Dass jene, die den Schatten auszuhalten haben, der Wut und Frust erregt, ihr Defizit mit Aufsässigkeit aufwägen, mit Gewalt und Rachegedanken, wird diese Frau selbst erkannt haben. Sie kann rein gar nichts mit Beispielen belegen, und für fremde Wahrnehmungen ist sie nicht offen.
»Einer könnte der sein, den Sie suchen«, sagt die Frau. »Vielleicht weiß der André etwas über den. Wenn der mal kommt, setzt sich André immer gleich zu ihm. Aber der ist maulfaul, wie André sagt.«
»Das würde passen«, sagt Isa mehr zu sich selbst. »Der spricht vielleicht auch mit mir nicht …?«
Noch mehr über ihren untauglichen Versuch zu verraten, ist sie nicht gewillt. Aber sie glaubt jetzt, hier könnte ihr Plan aufgehen. Nicht lang, da macht die Frau ihre Zuversicht zunichte.
»Haben Sie sich vielleicht mal überlegt, dass es keinen gibt, der sich in ihren Büchern wiederfinden will. Ich hätte das damals nicht gewollt.«
Schon wieder bezieht die Frau sich ein in das Leben derer, das gerade sie ein wenig erträglicher zu machen hat. Es liegt nicht nur ein anderer Ton in der Stimme der Frau, auch der Ausdruck ihrer Augen ist anders. Und endlich reicht sie Isa die Hand und sagt beinahe kleinlaut:
»Ich bin Judith. Ich war mal eine von denen. Ich weiß genau, was Sache ist. «
Irgendetwas sagt Isa, dass sie um Himmels willen jetzt nicht fragen darf. Nur einen Moment tauschen die Frauen ihre Blicke, da beginnt Judith zu erzählen:
»Das erste Mal wurde ich mit 25 Jahren aus der Gosse geholt«, sagt sie ganz leise, als verrate sie ein lang gehütetes Geheimnis.
Der Umzug von Bautzen nach hier — der Arbeit wegen — habe sie belastete. Sie sah ihren Freund kaum noch, und der hatte bald eine Andere. Verlassen zu werden, zerrte an den Nerven. Dann machte er Schluss — per SMS, die übelste Form, die man kennt. Judith griff zur Flasche, um zu vergessen. Alkohol wurde ihr neuer Freund, doch das Vergessen gelang nicht. Als sie unverhofft in Bautzen auftauchte – sturzbetrunken – flog sie raus, und seitdem wollte auch ihre Familie nichts mehr von ihr wissen. Noch hatte sie eine Anstellung, doch der Alkohol verschlang ihr Geld. Die Mietrückstände wurden immer größer. Schließlich flog sie aus ihrer Wohnung und in dieser Folge aus ihrem Job. Es half ihr keiner, weil sie nicht reden konnte. Niemals für sich selbst. Im nüchternen Zustand — und den gab es bisweilen — war ihr bald klar, was passieren würde, wenn sie so weitermachte. Sie brauchte einen Halt, und den fand sie in Ulli, einem charmanten Kerl, der sich bisweilen in ihrer Nähe herumtrieb. Ein stadtbekannter Alkoholiker, wovon sie lange Zeit nichts wissen wollte, wie sie sagt, obwohl sie ab und zu mit ihm trank. Ullrich Konz hatte eine kleine Wohnung, schäbig, mit Blick auf die kahle Wand eines dunklen Hinterhofes. Sie zog zu ihm und bekam bald ein Kind, das alles änderte. Jetzt erfuhr Judith, was häusliche Gewalt ist, die sie nie zuvor erfahren hatte. Doch von Ulli loszukommen, fiel ebenso schwer, wie vom Alkohol zu lassen. Die Fürsorgestelle riet ihr zum Entzug.
Читать дальше