Maxi Hill
Verloren im Land der roten Dünen
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Inhaltsverzeichnis
Titel Maxi Hill Verloren im Land der roten Dünen Dieses ebook wurde erstellt bei
Das Unlösbare
Sina Kolb
In der Klinik
Familiensinn
Gabrieles Tagebuch
Tarek
Erste Anzeichen
Nichts als Rückschläge
Im Haus in Khomasdal
Windhoek
Die erste Katastrophe
Das Nebulöse
In Khomasdal
Die zweite Katastrophe
Die Wahrheit
Das Geschehen
Die Zeit in der Schwebe
Zu guter Letzt
Das Leben geht weiter
Maxi Hill
Bibliografischer Überblick über die jüngsten Maxi-Hill-Bücher
Impressum neobooks
Ich, Sabrina Kolb, erzähle die Geschichte meiner Nichte Lynn und deren Tragödie im
Land der roten Dünen.
Doch es ist auch meine Geschichte aus einer Zeit, als ich bis ans Ende der Welt gehen musste, um zum Anfang zurückkehren zu können.
Allen, die glauben, mein Verhalten sei unwahrscheinlich sei gesagt:
Einen Menschen zu lieben und zugleich bei Verstand zu bleiben, ist fast unmöglich.
Wo verstecken sich all die klugen Argumente, wenn man sie braucht? Wo ist die Logik, die man zu besitzen glaubt?
Ich stand - fernab meines gewohnten Lebens - im fremden Land Namibia am Rande der schönsten Dünen dieser Welt. Nach einer denkwürdigen Entdeckung suchte ich nach Worten, nach plausiblen Argumenten, die mir nicht einfielen. In diesem Moment drückte das Gewicht eines dahingeworfenen Satzes von Sten meine Logik in den roten Sand.
»Was du willst, ist bei Gott nicht entscheidend, Sina!«
Für einen Moment fand ich, dass beides ziemlich verrückt klang: Sein abwertender Tonfall und meine Drohung, die sich nicht mehr in meinem Kopf verstecken konnte. Ich war gekommen, um Lynn zu ihrer todkranken Mutter zurückzubringen. Sten hatte offenbar andere Pläne. Ohne die Konsequenzen zu bedenken, platzte es aus mir heraus:
»Was ist los mit Lynn? Sten, wenn du mir nicht bald die Wahrheit sagst, gehe ich zur Polizei.«
Was waren meine guten Vorsätze, was war mein Können und Handeln jetzt wert? Mich hatte das Leben, mich hatte mein Beruf gelehrt, Ursachen zu erforschen, um eine Strategie des Handelns zu entwickeln. Leider stand mein Leben seit Wochen gerade auf dem Kopf. Während es zu Hause nur noch darin bestanden hatte, nach meinem vernachlässigten Dienst an der Uni meine ungeliebte Schwester Gabi zu bemuttern, verlor ich mich hier im größten Ungeschick meines Lebens.
Warum war ich hier? Was hatte ich erreicht? Wie sollte ich ohne Lynn zu meiner sterbenden Schwester zurückkommen? Ich hatte ihr schließlich etwas versprochen: Wer, wenn nicht ich, kann Licht ins Dunkel der Sache bringen. Meinst du wirklich, Sten wird dir reinen Wein einschenken, wenn er etwas im Schilde führt? Ich glaube es zwar nicht, dass er dazu fähig ist, sein eigenes Kind für eine Scheußlichkeit zu benutzen. Sten ist … er war nie so. Außerdem warst du es. Du hast zuerst vermutet, dass Sten dir dein Kind nehmen will. Wenn es dir damit ernst war, wenn du dein Kind bald zurückhaben willst, dann lass mir freie Hand. Ich bring sie dir zurück, darauf mein Wort!
Das alles war keinen Pfifferling mehr wert. Sten hatte nicht nur mit diesen wenigen Worten, nicht wegen dieses einen Satzes erreicht, dass ich wieder das Schlimmste von ihm erwartete. Er hatte getan, was Gabi vermutet hatte, was auch mich in Unruhe versetzte, seit ich meiner Schwester glaubte, obwohl sie dem Wahnsinn nahe war.
Nun war ich selbst dem Wahnsinn nahe, weil weit davon entfernt, Wort zu halten und Lynn zu Gabi zurückzubringen. Ich wusste ja nicht einmal, wo sie wirklich war …
Begonnen hat mein Dilemma an einem kühlen Herbsttag. Ich lag unter einer weichen Decke in meinem Schaukelstuhl und las das Buch über eine merkwürdige Liebe zwischen einer jungen Frau zu ihrem querschnittsgelähmten Schützling. Freilich hatte diese Liebe keine Chance, so wie meine Liebe einst keine Chance hatte. Aber aus völlig anderem Grund.
Das Telefon schellte. Ich hatte wenig Lust, meinen Sinn auf das profane Problem eines meiner Studenten zu richten. Ich hatte erwartet, dass es einem von ihnen eingefallen war, mich zu Hause zu stören. Was konnte eine alleinstehende Frau schon Wichtiges vorhaben an einem kühlen Wochenende.
Es machte mich wütend und neugierig zugleich, wer sich da erdreistete.
Der Anrufbeantworter sprang an. Ich hörte nichts, als das Ausstoßen von Luft am anderen Ende der Leitung. Dafür schreckte mein Verstand aus seiner tagelangen Apathie auf und sendete kleine Gedankenblitze: Was, wenn es Lynn war? Es konnte gut sein, dass sie so lange nichts von sich hat hören lassen, weil sie uns mit ihrer vorzeitigen Heimkehr überraschen wollte – mich und vielleicht auch Gabi.
Lynn war für ein ganzes langes Jahr nach Namibia zu ihrem Vater Sten gereist, der Gabi und Lynn verlassen hatte – und mich. Freilich hatte er mich verlassen; irgendwie. Lynn schrieb mir oft von dort. An diesem Tag wartete ich schon länger als vier Wochen auf das nächste Lebenszeichen von ihr.
Die erste Botschaft erreichte mich schon kurz nach Lynns Ankunft in Windhoek. »Da bin ich also, Tante Sina.« Sie sagte noch immer Tante Sina zu mir, obwohl ich ihr angeboten hatte, einfach Sina zu sagen, als wären wir gute Freunde, was wir schließlich waren. Das wollte sie nicht. Ihre Erklärung über das Warum schien sehr plausibel: »Du bist die Einzige, die mich daran erinnert, eine Familie zu haben«, sagte sie. »Freunde habe ich genug.«
Ich musste zugeben, so hatte ich die Lage für meine Nichte nie gesehen.
Dass sich ihr Vater Sten für seine Flucht aus der Ehe ausgerechnet Afrika ausgesucht hatte, lag nicht nur an seinem Beruf, jedoch sein Beruf gab ihm die Chance dazu. Eine deutsche Tageszeitung in Windhoek suchte einen verantwortlichen Redakteur und Sten griff überaus freudig zu. Bei ihm hielt sich Lynn nun schon etliche Monate auf.
»Ich will ehrlich sein«, schrieb Lynn weiter. »Ich hatte vor dem Heimweh eine beschissene Angst. Die muss ja längst nicht überstanden sein. Ann und Papa haben mich morgens am Hosea Kutako International Airport in Windhoek abgeholt. Das war erst einmal pure Panik. Ann ist ein Kleurling, was wir Europäer als Mischling bezeichnen würden. Manche Leute sagen sogar Bastard, was hier kein Schimpfwort ist. Inzwischen sehe ich keinen Unterschied mehr, wenn ich in die Gesichter schaue. Manchmal weiß ich später nicht einmal mehr, ob der Mensch in heller oder dunkler Haut steckte. Ann ist süß für ihr Alter, aber die Vorstellung, dass sie und Papa ein Paar sein könnten, erschien mir im ersten Moment eben … nicht abwegig, eher fremd. Papa war gleich herzlich zu mir, umarmte mich, als hätten wir uns erst vor zwei Wochen getrennt. Ich hatte das Gefühl, die beiden waren sich nicht einig, was sie mit mir anstellen sollten. Sie haben mir das Ankommen erst einmal erleichtert. Ehrlich, Tante Sina, es war ein gutes Gefühl, nicht völlig fremd oder auf sich allein gestellt zu sein. Inzwischen weiß ich, Ann ist bezaubernd und die beiden Jungen Ben und Luca auch. Dir kann ich es ja sagen, da muss ich keine Angst haben, dass du es Mama erzählst! Eigentlich schade. Oder, Tante Sina?«
Obwohl sie mich mit ihren kleinen Botschaften versorgte – auch Videos, die mich traurig machten, weil ich Sten leibhaftig wiedersah - wartete ich merkwürdig ungeduldig darauf, dass das nächste Lebenszeichen einging. Ich wünschte – das war sicher ungerecht – dass das Jahr endlich verging. Lynn fehlte mir sehr. Es sollte nicht nur ein paar Monate dauern, es kam schlimmer.
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