Was mir wirklich bevorstand, konnte ich schließlich nicht voraussehen.
Zugegeben, es machte mich unglücklich, meine kurz bemessene Zeit bei meiner Schwester zu verbringen, die mir nur Abneigung und Skepsis entgegenbrachte. Mein eigener Haushalt ließ bereits zu wünschen übrig, die Vorbereitungen auf die Vorlesungen und Seminare fielen dürftig aus. Auf die wenigen Freuden am Leben, die ich mir bis dahin immerhin gegönnt hatte, verzichtete ich gänzlich. Ich hatte keine einzige Zeile eines der Bücher gelesen, die seit Monaten auf meinem Reader schlummerten.
An diesem Abend hatte ich mir vorgenommen, Gabis Wäsche zu waschen und den Kühler abzutauen. So alltägliche Dinge blieben in meinem eigenen Haushalt solange unerledigt, bis mir die Notwendigkeit peinlich wurde.
Wenn ich Lynn glauben konnte – das konnte ich immer – gab es in Gabis Haushalt feste Rituale, ob für deren Verrichtung die Notwendigkeit bestand oder nicht. Wahrscheinlich war das die Folge von Gabis pflichtgemäßen Abläufen in den letzten Lebensmonaten unserer Mutter. Wenn man für einen anderen Menschen denken muss, agiert man anders. So jedenfalls verteidigte ich seinerzeit meine ungeliebte Schwester vor meiner geliebten Nichte.
Gabi aß an diesem Abend sehr wenig - sie schien dafür zu unruhig zu sein. Ich spürte den Drang in ihr, nicht von ihrem Laptop lassen zu können. Es war nicht zu erwarten, dass sie in ihrer Übermüdung alles richtig erfasste. Sie las die Botschaften immer wieder und ich sah, wie sie die jüngeren mit den länger zurückliegenden verglich. Lynn ist nicht mehr Lynn?
Vermutlich war ihr Zusammenbruch genau dieser Tatsache geschuldet? Angst löst manchmal etwas aus. Vielleicht hatte sie sich in etwas hineingesteigert und sich keine Mühe mehr gegeben, überhaupt in den Schlaf zu finden. Womöglich dachte sie, wenn sie die Zeit mit Schlafen vergeudete, käme sie nie mehr hinter den Grund von Lynns Veränderung, die sie wahrzunehmen glaubte. Ein solcher Zustand ist wie eine Sucht, wie ein Wahn, vor dem sie ja nicht wirklich gefeit war – über kurz oder lang, wie Doktor Saul bestätigte.
Es kostete einige Mühe und ich hatte viele garstige Worte zu ertragen, ehe ich Gabi dazu gebracht hatte, ihre Medikamente zu nehmen. Ich achtete peinlich darauf, dass sie ihren Laptop vergaß, der noch in Betrieb war. Dort wollte ich selbst nach gewissen Anzeichen suchen, von denen ich vermutete, dass sie Gabi aus der Fassung brachten. Dazu kam ich an diesem Abend nicht mehr.
Als ich in ihrem Schrank nachsah, ob irgendwo ein Kleidungsstück in den Farben der Charge zu waschen wäre, die ich in die erst halbgefüllte Trommel geben könnte, zog ich ein braunes, fast unscheinbares Buch mit heraus. Es fiel zu Boden und ich sah es mir an. Am Anfang schien es mir wie das Tagebuch aus Kinderzeiten. Ich selbst hatte auch ein solches, nur war mein Einband mit rotem Mohn und blauen Kornblumen geschmückt.
Ich weiß, dass es kein Ruhmesblatt ist, wenn man den intimsten Dingen eines anderen Menschen nachspürt. Über kurz oder lang musste es ohnehin sein, wenn ich alles zu regeln haben werde. Also blätterte ich ein wenig durch die Seiten. Im letzten Drittel erfasste ich meinen Namen.
Und da las ich, was mir in der folgenden Nacht, in der ich in Gabis Wohnung blieb, den Kopf zermarterte:
Gabi hatte sich gewünscht, so sein zu können wie ich, ihre Schwester Sina: Natürlich, intelligent, unabhängig, selbstgenügsam und stark. Es könne nur Stärke sein, schrieb sie, wenn man gestohlene Liebe klaglos ertrage. Sie selbst ertrug den Gedanken nur äußerst schwer, Lynn öfter als sie zugibt, bei mir zu wissen. Vielleicht, so schwadronierte sie, lege es Sina darauf an, ihre einzige Liebe zu stehlen, so, wie sie Sinas Liebe einst gestohlen hatte für einen einzigen Grund. Genau diesen würde sie niemals mit Sina oder irgendwem teilen wollen.
In Gabis Augen vermochte ich so ziemlich alles zuwege zu bringen: Studium, Doktortitel, anerkannte Projekte und so einiges andere, was Gabi aufgelistet hatte, ich selbst aber unter Arbeitsalltag einer Dozentin für Kommunikationswissenschaften abhaken würde. All diese Dinge zu meistern, hatte sich Gabi gewünscht aber nie vermocht, weil die Familie wichtiger war. Da sei es nur gerecht, stand unter den Zeilen, wenn sie die minimale Kleinigkeit für sich in Anspruch genommen habe, sich Sten auszuborgen .
Kein einziges Mal im Leben hatte ich die Chance, von dieser Seite einen Blick in Gabis Welt zu nehmen. Wie konnte ich wissen, was sie sich wünschte, was sie vermisste, was ihr lohnenswert erschienen war.
Zum ersten Mal erfuhr ich nun auch, dass sie keinen Anspruch auf Sten erhoben, dass sie sich ihn nur ausgeborgt hatte, vermutlich, um ein Kind zu bekommen, in das sie alles projizieren konnte, was sie selbst vermisst hatte im Leben.
Nach diesem Tag änderte sich ein Teil meines Weltbilds radikal. Ich schloss die Augen und sah die Schwester, wie sie das Leid um unsere Mutter zu tragen hatte, während ich – zuletzt gar nicht mehr glücklich – im fernen München an der Ludwig Maximilians Universität mit abstrakten Regeln aus der Kommunikationstheorie und Kommunikationsgeschichte, mit der Publizistik, der Medienökonomie und der Medienwirkung befasst war. Nur hin und wieder ging ich mit Kommilitonen in eine Bar, zu einer Disco oder auf ein Bier in eine dieser alten, gemütlichen Kneipen, wo die Tische und Bänke aus schwerem, dunklem Holz und die Dirndl der Mädchen aus feinem, leuchtendem Taft waren.
Wie konnte ich etwas abgrundtief verurteilen, das mit unbekannter Kehrseite einherging. Gabi hatte ihr Leben nach Mutters Tod endlich auf die eigenen Bedürfnisse ausgerichtet. Die betrafen zuerst Sten, später einzig Lynn. Ihre nagende Unsicherheit, die sie mit ihrem Körperkult übertünchte, ihr heimlicher Groll auf unsere Liebe, die sie mit ihrer niederschmetternden Einsamkeit verglich, das alles musste sich in einer einzigen Aktion entladen haben, mit der sie Sten überrumpeln konnte. Vermutlich hat es mit Sten nur deshalb nicht auf Dauer funktioniert, weil Gabi sich außerstande fühlte, ihre Liebe auf zwei Menschen aufzuteilen. Es gibt sie, diese Zustände, wo man sich wie in einem Hamsterrad fühlt. Mit Sten an ihrer Seite glaubte sie, zu wenig Zeit für Lynn zu haben, dabei war ihr Kind der einzige Grund, der sie an Sten gefesselt hatte.
Es schien von Anfang an so angelegt, dass diese Liebe nicht klappen sollte . Offenbar wollte sie ihn mir gar nicht gänzlich nehmen, nur für den einen Grund benutzen, den kein Mensch allein bewerkstelligt.
Wir waren mehr als nur grundverschiedene Charaktere, wir hatten einen völlig unterschiedlichen Blick auf die Welt. Das Leben prägt die Menschen mehr als die Abstammung. Stets war das Leben für mich bequemer als für Gabi, die vom Schicksal unserer Mutter gebeutelt und nun von ihrem eigenen gelinkt wurde.
In den Jahren unserer Jugend hatte ich fest damit gerechnet, dass es genau andersherum kommt, als es letztlich kam. Ich hatte für mich geordnete Verhältnisse vorhergesehen. Ich sollte die liebende Ehefrau und glückliche Mutter sein. Für meine introvertierte Schwester Gabi schien das Leben vorbestimmt, wie ich es momentan hatte – allein, introvertiert und verbittert. Zugegeben, verbittert war ich nie und Introvertiertheit kann man sich als Dozentin nicht leisten – nicht, wenn man ein gutes Verhältnis zu seinen Studenten als zielführend betrachtet.
Ich war ebenso neidisch auf Gabi. Wenn ich mein eigenes Leben überdachte, wusste ich nicht, welche Spuren ich einst hinterlassen würde. Die beruflichen verwischen sich sofort mit dem Ausscheiden – das zwar noch lang hin war, aber das Berufsende gehörte zur Regel des Lebens.
Spuren als Mutter – wie Gabi sie so prächtig hinterlassen hatte – waren mir bereits versagt geblieben. Einen Erben brauchte ich zwar nicht. Das Glück des verschenkten Herzens hätte ich indes gerne gelebt. Möglicherweise kommt jetzt meine Stunde …
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