Ich verstand sie nicht. Sie hatte keinen Grund, Sten zu hassen. Ich schon. Aber bei uns war von jeher alles anders. Ich liebte Sten, obwohl ich ihn hassen sollte. Sie hasste ihn, obwohl er ihr das Liebste geschenkt hatte, das sie je besaß: Lynn.
Am Morgen des nächsten Tages erlebte ich, wie Gabi – eventuell schon die halbe Nacht lang, weil noch immer in Tageskleidern - vor dem Computer saß und eine E-Mail nach der anderen anklickte, die sie von Lynn erhalten hatte. Es mussten so an die hundert gewesen sein. Ein Großteil war von denselben Videobotschaften begleitet, von denen ich selbst einige bekommen hatte; andere Sequenzen, jedoch gleiche Anlässe und Orte.
Ich schaute ihr fassungslos über die Schulter und sah Lynn mit braungebrannter Haut in hellblauen Shorts zwischen all den dunkelhäutigen Kindern, denen sie am Nachmittag bei den Hausaufgaben half. Als After-School-Project bezeichnete Lynn die Aufgabe, die sie nach der High School übernommen hatte, täglich nachmittags für zwei bis drei Stunden, weil der Unterricht jeden Tag schon kurz nach dreizehn Uhr beendet war. Manchmal gaben die Austauschschüler Nachhilfestunden in den schwierigen Fächern wie Mathematik. Manchmal gestalteten die Austauschschüler die Freizeit der Kleineren mit allerlei Spielen und Sport. Ich spürte die Freude in ihren Worten und ich las den Stolz aus ihrem Gesicht, anders als Gabi. Über Lynns Freude, nützlich zu sein, konnte ich mich nur freuen, weniger über die Bilder, in denen Sten mit seinen Söhnen Ben und Luca zu sehen war oder mit Ann, Stens neuer Frau. Sie zogen mich zurück in depressive Momente, vor denen ich mich fürchtete und dessentwegen ich mich zugleich in Unmengen an Arbeit stürzte. Als es mir zu viel geworden war, hatte ich Lynn gebeten, mich mit diesen Bildern zu verschonen. Ich an, warum ich so entscheiden musste. Seither kam keine neue Nachricht.
Kaum traute ich mich, Gabi zu fragen, wann die letzte Mail von Lynn gekommen ist. Schließlich wartete ich sehnsüchtig auf einen neuen Lagebericht. Dass der letzte schon einen Monat zurücklag, schrieb ich mir selbst und meiner Offenheit zu. Wie sollte ein Mädchen mit dieser Wahrheit umgehen?
Ich setzte mich zu Gabi, als wäre die letzte Nacht ganz üblich verlaufen. Wir sprachen über das unvorstellbare Leben in der einst deutschen Kolonie, in der es noch immer recht deutsch zuging. Es gab sogar eine deutsche höhere Schule. Für diese hatte sich Lynn zu Gabis Entsetzen nicht entschieden. Sie bevorzugte es, das wirkliche Leben auf dem fremden Kontinent kennenzulernen. Die Bilder, die sie von einem Klassenausflug schickte, zeigten ein buntgemischtes Völkchen – Jugendliche mit heller Haut neben dunkelhäutigen in moderner Kleidung, wie man sie auch in Europa trug, nur eben quietschbunt.
Ich wusste es aus vielen Publikationen, dass die Stadt Windhoek nur so von deutschen Erinnerungen strotzte. Es gab Häuser, die könnten ebenso in Thüringen, im Breisgau oder im Lausitzer Bergland stehen. Es gab Viertel, da sah man die Not. Alles hatte den Anschein, die Weißen grenzten sich von denen ab, die dort ihre Heimat hatten, aber noch immer benachteiligt waren. Menschen, die dorthin gehörten, deren Land ausgebeutet, deren Wild zur Freude reicher Europäer und überkandidelter Amerikaner abgeschlachtet wurde und deren Tradition mit großer Skepsis begegnet wurde, lebten in elenden Vierteln aus primitiven Häusern oder gar Wellblechhütten. Das hatte nichts mit gelebter Tradition zu tun, wie die verschiedener Stämme. Für manche ihrer Traditionen kannten wir nördlich der Alpen nur ein Wort: Rückständigkeit. In dieser Frage war Lynn uns einen großen Schritt voraus.
Davon schrieb sie einmal und zeigte in bewegten Bildern was sie meinte:
»Windhoek ist eine Stadt der Gegensätze. Prächtige Häuser, gepflegte Villen, große Sportanlagen – dicht dabei das Unvorstellbare. Heruntergekommene Viertel aus schäbigen Hütten auf blanker Erde gebaut, nichts als Staub und Unrat. So ungleich leben hier Arm und Reich beieinander.«
In ihre Klasse ging ein Junge aus dem Stamm der Himba, dessen Volk in Lehmhütten lebte, dessen Frauen sich mit rotbrauner Erde einbalsamierten und ihr Haar mit einem Gemisch aus Lehm oder Dung anreicherten. Sie besaßen nicht mehr, als sie zum Überleben brauchten, kein Stück Kleidung mehr, als sie auf dem Leib trugen, kein Buch, kein Radio, keine Zeitung. Dennoch hatte es einer aus deren Reihen geschafft, in der Hauptstadt zu leben und auf eine höhere Schule zu gehen. Dass der leitende Redakteur der deutschen Allgemeinen Zeitung, Sten Martens, die Finger im Spiel hatte, darauf war Lynn ganz besonders stolz. Wir gönnten es ihr. Zum ersten Mal waren wir uns - Gabi und ich - an diesem Morgen über etwas einig, was Lynns Aufenthalt in der Wahlheimat ihres Vaters betraf.
In einem anderen Fall war Gabis Skepsis vorprogrammiert. Sie kannte ihr Kind und ich kannte Lynn wie keinen anderen Menschen auf dieser Welt. Dieses Wildlife-Projekt, wo sie in den dortigen Ferien arbeiten durfte, brachte nicht nur pure Freude für das kritische, mit viel Gerechtigkeitssinn ausgestattete Mädchen.
Gabi hatte bereits das Video mit der völlig aufgelösten Lynn geöffnet, wo es um getötete Nashörner ging. Im Etoscha, so sagte Lynn unter Tränen in ihre Kamera, seien in diesem Jahr schon 54 Kadaver getöteter Nashörner gefunden worden. Nun habe es Billi erwischt, einen Jungbullen aus dem Wildlife-Project. Man habe ihn durch den Zaun hindurch getötet und des Hornes beraubt. Lynn hielt unter Tränen ein weißes Schild vor ihre Brust. Ein rotes Dreieck, einem Verkehrszeichen ähnlich. Innerhalb des roten Rahmens sah man die Silhouette eines Nashornes mit einem Beil in den Klauen. Es hob wie zur Vergeltung einen Wilderer mitsamt seinen Waffen an den Füßen in die Luft. Mit roter Schrift umrankte das Dreieck die Botschaft: TRUE KARMA – ZERO TOLERANCE. Bevor Lynn weitersprach, schwenkte die Kamera auf den Kadaver des qualvoll verendeten Tieres.
»Mama. Du musst das Video ins Netz stellen. Auch Deutsche beteiligen sich an der Wilderei. Seit der Urlaubssaison sind beinahe zwanzig neue Fälle hinzugekommen. Arme Welt! Wenn es ums Erleben geht, kommen sie alle. Jedoch schützen und für die Tiere kämpfen will keiner. Immer ist es leider gerade mal wieder zu spät. Die Menschheit lernt nichts dazu! Ich bin so traurig. Mama, es wird wieder keine Konsequenzen geben. Es ist zum Heulen.«
Dass ich die ähnlichen Bilder, die Lynn mir gesendet hatte, längst auf Facebook gestellt hatte, musste ich Gabi verschweigen. Mir hatte Lynn eine optimistischere Nachricht drangehängt. Namibia gehe derzeit mit Drohnen gegen die Wilderei vor. Es seien zuletzt drei Chinesen gefasst worden und stünden kurz vor der Verurteilung.
Ob das mit den Drohnen nur positiv war, wollte ich nicht beurteilen. Es war eine Maßnahme, die ein wenig abschrecken konnte.
Ich hatte leider den Eindruck, es ging Gabi um keinen einzigen dieser Hintergründe in Lynns Nachrichten. Es interessierte sie erst recht nicht, wie ich dachte. Es ging ihr um etwas anderes, nur konnte ich ihrer konfusen Argumentation nicht so recht folgen.
»Lynn ist nicht mehr Lynn«, sagte sie, dabei war es genau der Umstand, auf den Gabi hätte stolz sein können. Ihr Kind war gereift zu einem urteilenden Menschen.
Wie recht sie dennoch mit diesen fünf Worten hatte, fiel mir zu jener Zeit gar nicht auf. Wie auch. Ich bekam ja keine Nachrichten mehr aus Namibia. Dahinter konnte freilich Sten stecken. Für Vorurteile war ich letztlich nicht geschaffen. Mich hatte das Leben gelehrt, Ursachen zu erforschen, um eine Strategie des Handels zu entwickeln. Im Moment lag mein Handeln lediglich darin, nach meinem Dienst die nötigen Dinge für Gabi zu erledigen, für die ihre Kraft nicht reichte. Irgendwann wollte ich Lynn eine scherzhafte Anfrage schicken, damit sie verstand. Wenn du noch länger schmollst, komme ich und kitzele dich durch.
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