Ein Teil meiner Wut bezog sich auf mich selbst. Ich hatte Lynn womöglich nie richtig zugehört. Wenn es um Gabi ging, klappte ich meine Ohren viel zu gerne zu. Von der Niedertracht meiner Schwester hatte ich genug. Lynn musste Gabis Zustand mit Argwohn beobachtet haben. Mir fielen ein paar Wortfetzen ein, die sie merkwürdig bang losgelassen hatte. … mit Mama ist's grad nicht so prickelnd. Sie kann im Moment schlecht schlafen und ist am Tage nur noch müde.
Es war mir egal, was Gabi grad nicht konnte, ich genoss es sehr, dass Lynn bei mir den familiären Ausgleich suchte, meine Zuwendung brauchte. Sie hätte sich in ihr junges Liebesleben stürzen können, aber sie kam zu mir, als würde sie nach Hause kommen. Ich hatte ihre Sorge verkannt. Mein Blick war verstellt von altem Hass und neuem Stolz.
Vielleicht hatte Gabi Lynn von unserer Mutters qualvollem Tod erzählt, oder Lynn hatte selbst recherchiert? Wer weiß?
Sie ist ein kluges Mädchen - genau wie ihr Vater Sten. Sie hat eine gesunde Neugier auf das Leben – genau wie Sten, sonst wäre er wahrscheinlich nicht ausgewandert.
Bei unserer Mutter begann alles mit dem übergroßen Wunsch zu schlafen aber nicht zu können. Sie nahm Unmengen von Schlafmitteln. Die Ein- und Durchschlafprobleme blieben. Bald schlief sie keine Nacht mehr wirklich tief. Letztlich blieb der Schlaf völlig aus. Die Folge war ein langsamer, qualvoller Verfall. Stück für Stück vermischte sie Traum und Wirklichkeit, verlor alle Fähigkeiten und fiel schließlich ins Koma.
Sollte Gabis Diagnose stimmen, sofern die Ärzte keinen voreiligen Schluss wegen der Vererbbarkeit gezogen hatten, würde Lynn bald ohne Mutter dastehen …
Lynn! Nicht Gabi ging mir durch den Kopf. Nur Lynn. Es mag für andere Ohren merkwürdig klingen, für Stens Tochter wollte ich sorgen, trotz alledem, sofern Lynn selbst es wollte. Das war zu erwarten. Soweit die gute Aussicht an der schlechten Nachricht.
Doktor Saul war eine äußerlich unscheinbare Frau so um die fünfzig Jahre, deren Kraft dennoch nicht unerschöpflich schien. Sie bat mich in ein kleines, chaotisches Zimmer am Ende des Ganges. Wortlos sah sie mich einen Moment zu lange an; ihre Gedanken schienen zerknittert wie das Papier, das vor ihr lag und das sie nicht zu glätten gedachte.
Dann sprach sie in knappen Sätzen. Ihre Worte trafen wie Pfeile, schnell und präzise:
»Die letale familiäre Insomnie trifft Männer und Frauen gleichermaßen. Die Ursachen sind weitestgehend unerforscht. Man weiß inzwischen, dass es ähnlich wie beim Creutzfeld-Jacob-Syndrom um entartete Eiweiße geht; Prionen, die die Hirnmasse des Erkrankten langsam zersetzen. Im Falle der FFI sind vor allem der Hirnstamm und der Thalamus betroffen, die Schlafkammer des Gehirns.«
Wieder ruhte ihr Blick viel zu lange auf mir. Sie überlegte offenbar, ob sie den Schrecken komplett machen durfte: »Die Krankheit wird autosomal dominant vererbt.«
Irgendwie musste sie wegen des Titels vor meinem Namen mein Verständnis über medizinische Dinge völlig überschätzt haben. Ich wusste mehr vom Erzählen als vom Erleben, wie es meiner Mutter gegangen war. Gabi sagte einmal: Irgendwie steht immer der Tod in einer Ecke unseres Hauses. Ich dagegen konnte mit den Begriffen, die ich aus dem Netz gefischt hatte, nicht wirklich etwas anfangen. Also wehrte ich mich:
»Was heißt das?«
»Das heißt, Kinder erben das Leiden zu fünfzig Prozent Wahrscheinlichkeit …«
Diese fünfzig Prozent sind ja nun erreicht, dachte ich. Zugleich wünschte ich, sie soll endlich still sein, dabei wurde die Angst in mir lauter: Falls es mich selbst nicht treffen sollte, die Kette der Vererbung wird nie reißen, stattdessen länger und länger werden. Das nächste Glied war zu fünfzig Prozent Lynn und das war etwas, was viel schwerer wog, als das Damoklesschwert der schlechten Erbmasse über meinem eigenen Kopf. Lynn war nicht nur der letztverbliebene Teil meiner Familie, sie war das einzige, wenn auch indirekte Bindeglied zu Sten. Beides wollte ich nicht opfern, nicht diesen verdammten Prionen.
»Wie geht es nun weiter?«, wollte ich wissen, ohne schon eine Verantwortung für mich selbst zu sehen.
»Wir können im Moment nur die Begleiterscheinungen medikamentös lindern.«
Zum ersten Mal erfuhr ich so von Gabis Krankheit. Auf einmal wusste ich zwei Dinge zugleich: Es gibt keine Chance auf Heilung. In bösen Stunden glaubte ich sogar, die Krankheit sei die gerechte Strafe für Gabis Verrat an meiner Liebe zu Sten. Zu meinem Erstaunen war ich aus gleichem Grund sicher, ab jetzt könnte ich meiner Schwester die Bosheit verzeihen, die mein Leben zerstört hat. Inzwischen war ihr Leben nicht mehr das, was sie selbst sich erträumt hatte.
Ich wusste nicht, was mich schon an das Ende denken ließ. In diesem Moment hatte ich einen Spruch auf den schweigenden Lippen: Wer in den Himmel kommt, erfährt dort seine Gerechtigkeit. Wir anderen müssen selbst dafür sorgen.
Ohne von meinem Spruch etwas ahnen zu können, lehrte mich Doktor Saul, meine Gedanken zu ordnen, Alternativen zu bedenken und mit ihr nach Lösungen zu suchen. Man hasst den klaren Verstand, man nennt ihn kalt und berechnend. Herzlos. Unmenschlich gar. Der Verstand macht den Menschen zum Menschen, das lehrte ich meine Studenten.
Als alles besprochen war, konnte ich sehen, dass es der Frau sehr wohl daran lag, das Papier in eine ordentliche Form zu bringen. Es trug Gabis Handschrift, krakelig, aber eindeutig. Die Nachricht auf dem Zettel – womöglich von Gabi selbst unschlüssig wieder zerknüllt, weil die Folge nicht nach ihrem Geschmack war - bestand aus meiner Adresse. Die Telefonnummer indes war in ausgefeilten Ziffern dazugeschrieben worden.
Statt mich zu wundern, kamen mir Zweifel. Wie sollte ich mich um Gabi kümmern? Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich einen Geschmack davon, wie es diesem Will im gerade gelesenen Buch ging, der die Lebenslust verloren hatte, weil er nicht mehr war, was er sein wollte. Jetzt traf es uns beide, Gabi wie mich. Sie bald hilflos wartend, dass einer kommt, der die simplen Verrichtungen vornimmt, für die ihr bald die Kraft fehlen würde. Ich - gefangen in familiärer Verantwortung - würde mein Leben nur noch an mir vorbeirauschen sehen. War das nicht zu viel verlangt nach Gabis schnödem Verrat? Auch nach neunzehn Jahren und drei Monaten tat es noch weh.
Alle Hoffnung floss aus meinem Körper, machte der Verzweiflung Platz, die geruchlos und fade wie stilles Wasser meinen Körper von innen her überschwemmte. Kein Prickeln mehr, kein Fünkchen Glück. Wie sollte ein so junger Mensch wie Lynn mit diesem Schicksal fertig werden?
Sten anzurufen traute ich mich nicht. Ich hatte freilich keine Nummer. Es war allemal besser, Lynn blieb unbehelligt. Gabi brauchte Hilfe; es würde die letzte sein, die ich ihr geben konnte, wenngleich es das sprichwörtlich Letzte war, was ich mir je hätte vorstellen können.
Als ich Gabi in Empfang nahm, lag ein Lauern in ihrem Blick. Sie wirkte übermüdet. Alles, was aus ihrem Mund kam, war vergiftet von wachem Hass und gähnendem Misstrauen.
»Das hast du ja fein hingekriegt«, zischten die blassen Lippen. »Wie hast du Lynn dazu gebracht, in diese 'Savanne' zu gehen.« Die Abscheu machte sie hässlich und alt, die schrille Stimme und die hervortretenden Augäpfel gaben ein Bild des Grauens. »Weißt du überhaupt, was da unten alles passieren kann? Ich rede nicht bloß von diesen verdammten Krankheiten. Ich rede auch vom uralten Hass der Schwarzen auf uns Weiße …«
Keiner ihrer Schreie deutete im Mindesten an, dass sie Lynns Recht anerkannte, zu ihrem Vater zu reisen und dass sie sich ganz bewusst seinetwegen dieses Land Namibia für den Schüleraustausch ausgesucht hat. (Sten und die vielen Formen der Aufgaben, die man vortrefflich kombinieren konnte, damit ein ganzes Schuljahr daraus wurde, ergaben eine Logik für Lynns Entscheidung.) Ein Jahr wollte sie sich gestatten und danach entscheiden, wie sie künftig mit ihrem Vater umzugehen gedachte, das hatte Lynn mir gesagt. Ich konnte heraushören, dass sie ihm irgendwie nie recht verziehen hat.
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