Ohne Vorwarnung fiel ich zurück in eine ungewisse Angst, die nur mit Ahnung gesprenkelt war, nicht mit Wissen. Das Mädchen so weit fort von zu Hause. Konnte da nicht doch etwas passieren?
Und wer sagte, ob Sten mit offenen Karten spielte?
Was, wenn er Lynn zur Foundation abgeschoben hat, um mit Ann keinen Stress zu bekommen? Noch schlimmer: Was, wenn er Lynn bei sich behalten möchte? Wenn er auf Rache gegen Gabi sinnt. Oder wenn er selbst nicht glücklich ist und in seinem Kind das Glück zu finden glaubt. Es wäre das Normalste der Welt, in Lynn so etwas wie ein Geschenk des Himmels zu sehen. Mir selbst ging es schließlich so.
Vor meinem Auge das Bild des Mädchens, sein kräftiges Haar im Nacken gebändigt, so, wie es die Schülerinnen in der Schule zu tragen hatten. So hatte sich Lynn zumindest in einer Mail über die namibischen Vorschriften beklagt. Es musste in einer der ersten Mails gewesen sein. Sie sprach darin von den Schuluniformen, die auffällig seien und die alle gleich machten, was sie zuerst doof fand. Irgendwann begriff sie den Sinn und erachtete ihn für vorteilhaft, gerade wegen der Mischung der Klasse.
Ich fröstelte. Über der Stadt hing kalter Nebel. Gabis Heizung funktionierte schlechter als meine, es wurde Zeit, dass sich jemand darum kümmerte.
Lynns Bilder vom Wildlife-Project waren in der Vergessenheit versunken. Neue, ganz unreale, schlichen sich bei mir ein. Bilder von einem erstarrten Gesicht voller Sorge und Ausweglosigkeit. Das war keine Panik meinerseits. Wenn Lynn von Gabis Zustand erfahren würde, bräche dort unten Panik aus. Damit wäre niemandem geholfen – nicht einmal Gabi.
Es war gut zu wissen, ob Gabi ihren Zustand in einer Antwort-Mail angedeutet hat, so dachte ich. Es war nicht so leicht, in Gabis Ablagesystem eine Ordnung zu erkennen. Gerade war ich im Begriff, weitere Mails, vorrangig die mit großem Datenvolumen zu öffnen, als die Wanduhr mich erschreckte. Ich hatte das Schlagwerk abgestellt. Wie zum Teufel konnte sie ihre grellen Töne durch die Nacht schicken. Es war zu erwarten, dass meine Mühe mit Gabi für diese Nacht umsonst war …
Ich lauschte, alles blieb ruhig. Wenn sie nach der Medikation wieder aufwachte, würde sie die ganze Nacht nicht mehr einschlafen. Das bedeutete einen total übermüdeten Arbeitstag für mich.
Die letzte der abgelegten Botschaften gönnte ich mir bei aller Sorge noch, danach sollte endlich Schluss sein für diese Nacht.
Unter der Überschrift: Katutura und nochmal Braai, schildert Lynn einen Tag, der sehr emotional für sie war.
»Ich glaube, das zu beschreiben fällt mir am schwersten, Mama. Katutura ist ein Township, in den die schwarze Bevölkerung in den fünfziger Jahren zwangsumgesiedelt wurde. Katutura bedeutet »Ort, an dem wir nicht leben wollen«. Ich glaube, das war die eindrucksvollste Lektion, die ich je in diesem Land bekomme habe. Es gibt Gegenden in Windhoek, da hat man einfach nicht das Gefühl, in Afrika zu sein. Alle fahren wie bei uns mit ihren Autos von daheim bis zum Parkplatz, erledigen, was zu erledigen ist, und weg sind sie wieder hinter ihren teuren Hecken, in ihren klimatisierten Häusern, von Palmen umgeben und von gelben Akazien. Das Leben auf den Straßen ist einfach nicht afrikanisch, nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. In Katutura ist es dagegen so, wie ich es mir nie vorstellen wollte. Eine riesige Wellblechhütten-Stadt dehnt sich bis zur Bergkette aus. Straßenverkäufer bieten Obst und Gemüse an, Fisch und Fleisch liegen blank auf den Ladentischen. Kinder spielen auf staubigen Straßen, elektrische Leitungen ziehen sich wie ein Spinnennetzt über die schäbigen Behausungen. Obendrein die Schule im Township! Es gibt nur ein winziges Klassenzimmer mit sehr kleinen Fenstern. Es ist dunkel und überfüllt von viel zu vielen Kindern. Sie sitzen auf Bänken oder Steinen und schreiben mit ihren Stiften in die Hefte, die auf ihren blanken Knien liegen. Jedoch sie lächeln, sie singen und tanzen für uns. In der Pause spielen sie mit einem Ball aus zusammengeknülltem Müll mit Schnüren umbunden. Da wo sie wohnen, gibt es keinen Strauch, keinen Baum, keinen Schatten und keinen See. Ihr Fußballplatzt ist ein staubiges Areal. Zu beiden Seiten begrenzen große Steine das imaginäre Tor … Das waren viele Momente, die mein Herz berührten und die mich zum Nachdenken brachten. Ich ärgere mich, wenn mein Handy nicht das allerneueste ist, oder wenn meine Kleider noch aus der letzten Saison stammen, die Schuhe eine Farbnuance abweichen oder meine Taschen nicht vom Designer stammen. Die Kinder hier lachen, sind zufrieden, haben Spaß, obwohl sie wenig besitzen und vielleicht nicht einmal satt zu essen haben. Sie können sich so herzlich freuen, sogar über die ganz kleinen Dinge. Ich glaube, ich werde in Zukunft über mein Leben anders urteilen. Ich wusste gar nicht, wie viel ich habe und nicht wirklich brauche.«
Ich atmete tief. Gabi hatte Recht. Lynn war nicht mehr Lynn. Nicht wegen ihrer Betrachtungsweise, auf die konnte man sogar stolz sein. Lynn benutzte Worte, die sie früher belächelt, mit Sicherheit aber niemals benutzt hätte. Areal. Imaginär. Farbnuancen. Eindrucksvollste Lektion.
Ob Sten und seine Arbeit bei der Zeitung schon abgefärbt hatten? Ich konnte und wollte nicht daran denken, in Gabis Wahnvorstellung einzustimmen. Lieber quälte ich mein müdes Haupt noch mit dem Rest:
»Zur Belohnung hatte Anns Mutter Ellen am Abend zum Braai eingeladen. Das ist wie bei uns ein Grillfest. Es ist Tradition, dass der jüngste Gast zu beweisen hat, ob er in der Lage ist, ein Feuer zu entfachen. Ich dachte, es kann von Vorteil sein, weil wir bald zu einer Safari aufbrechen wollen. Das Feuer gelang mir freilich nicht. Das Braai war gut. Es gab gegrilltes Ziegenfleisch, super zart, gebratenen Reis und weißes Brot, alles mit würzigem Dipp und knackigem Salat. Es war sooo lecker und wir haben viel gelacht.«
Ich habe dich lieb Mama, oder ihr gewohntes Ciao, schien sie vor lauter Euphorie vergessen zu haben.
Zuerst dachte ich, Lynn habe in der Tat eine Veränderung durchgemacht. Hier zu Hause würde sie eher kilometerweit rennen, als Reis zu essen. Der Mensch wird immer erst durch Erfahrung klug. An diesem Tag war mir gar nicht aufgefallen, dass Lynn 'ums Verrecken', wie sie es nannte, niemals irgendetwas von einer Ziege zu sich zu nehmen würde. Niemals.
Wie hat es Sten nur angestellt, sein Kind so schnell umzukrempeln. So dachte ich. Diese Mail und die passenden Bilder dazu datierten aus der Zeit vor sechs Wochen. Da war Lynn schon mehr als neun Monate im fremden Land. Das sollte genügen, um Vorurteile und Marotten einzudämmen.
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