Der ihm konzentriert lauschende Paris fragte gespannt:
„Und wer ist der Hohe Rat?“
„Der Hohe Rat ist eine Versammlung von Erleuchteten Wesenheiten, die im Einklang mit der göttlichen Weisheit über das Schicksal des Universums bestimmen und sich bei bedrohlichen Entwicklungen im Tempel Shambalah versammeln. Gerade bin ich von einer dieser Versammlungen zurückgekehrt, bei der mir meine schwierige Aufgabe mitgeteilt wurde.“
„Um was für eine Aufgabe handelt es sich? Und was haben unsere Zwillingsseelen auf der Erde und Odysseus´ Mission mit ihr zu tun?“
Ashmun wusste, dass es noch zu früh war, um Paris in alles einzuweihen, was bei der Versammlung des Hohen Rates besprochen worden war und gerade in diesem Teil des Universums geschah. Deshalb erzählte er ihm zunächst nur von den Gehirnmanipulationsabsichten der Loge des Northern Cross, deren Auswirkungen auf die Menschen auf der Erde und ihren Zwillingsseelen auf Ethar.
„Aber wie willst du den Plan des Odysseus, dein Nachfolger zu werden, vereiteln, ohne dass dadurch sein Sieg im Kampf gegen die Loge des Northern Cross verhindert wird?“
Ashmun entschied sich, Paris mehr Informationen zu geben.
„Ich habe Odysseus nicht die ganze Wahrheit über die wahre Identität der Zwillingsseelen und die Hintergründe der Bedrohung gesagt. Es geht in Wirklichkeit um folgendes: Gaia, die Erdgöttin, hat ihre Kinder, die Titanen, zur Hilfe gerufen, weil sie von den Nachfahren der Olympischen Götter, den Menschen, so brutal gequält wird, dass sie sich in Todesgefahr befindet. Um ihre Mutter zu retten, haben die Titanen beschlossen, mit Hilfe einer von der Loge des Northern Cross entwickelten Technologie alle menschlichen Gehirne zu manipulieren und die Erde in ein einziges Schlachtfeld zu verwandeln. Die Menschen sollen sich gegenseitig ausrotten. Dazu haben sie Prokustes, den menschenhassenden Riesen, inkarnieren und zum Logenmeister der Loge gemacht und ihm die verheerende Technologie zur Manipulation der menschlichen Gehirne zugespielt. Im Auftrag des Hohen Rates habe ich die Olympischen Götter über diese Absicht der Titanen informiert, woraufhin sieben von ihnen sich auf die Erde begeben haben. Die Menschen, von denen Odysseus glaubt, sie seien die Zwillingsseelen der Kriegsherren von Ethar, sind in Wirklichkeit sieben Olympische Götter. Zur Abwendung eines großen Krieges zwischen den Titanen und den Göttern des Olymp habe ich ein Treffen im Amphitheater von Epidaurus zwischen ihnen und den Titanen vorgeschlagen, um über eine Lösung des Konfliktes zu verhandeln und eine Entscheidung herbeizuführen, wer von ihnen über das weitere Schicksal der Erde und deren Parallelwelten bestimmen wird. Um dort erscheinen zu können, müssen die Olympischen Götter aber wieder zusammengeführt werden. Was wir nicht bedacht haben war, dass sie aufgrund der vollkommen veränderten und vergifteten Erdatmosphäre nicht nur ihre göttlichen Fähigkeiten verloren haben, sondern auch nicht mehr wissen, wer sie in Wirklichkeit sind. Erst wenn Odysseus sie alle sieben wieder vereint hat, werden sie sich erinnern und ihre Fähigkeiten zurückerhalten. Sollte es aber der Loge des Northern Cross und damit den Titanen gelingen, einen von ihnen oder gar aller habhaft zu werden, bevor Odysseus sie zusammengebracht hat, könnten sie die Olympier mit Leichtigkeit für alle Zeiten nach Thare verbannen und die Herrschaft in unserem Universum übernehmen. Meine Aufgabe ist es, das zu verhindern. Du wirst deshalb ebenfalls auf die Erde reisen, um Odysseus zu überwachen und ihm zu helfen. Ich habe eine dir wohlbekannte Wirtin ausgesucht, bei der du „einziehen“ wirst. Und jetzt höre mir bitte sehr genau zu. Wenn Du Odysseus begegnest, sagst Du ihm folgendes: ...“
30.12., 8.30 Uhr GMT, Mingary Castle, Schottland
Cupido hatte Recht behalten. Das alte Jahr endete mit einem Paukenschlag. Nach dem Aufwachen schaltete James den Fernseher ein. Die Morgennachrichten auf allen Fernseh- und Radiosendern hatten nur ein Thema, und die gesamte Weltpresse berichtete heute mit balkendicken Überschriften von dem spektakulären Vorfall bei der Vier-Schanzen-Tournee in Deutschland. Neben all den Schlagzeilen wegen des Verschwindens des prominenten Sportlers wurde auch über einen Antrag des slowakischen Skiverbandes, den Schanzenrekord von Jan Kaudek anzuerkennen, obwohl seine Skier ohne ihn gelandet waren, heftig diskutiert.
Auch das sich-in-Luft-Auflösen einer bis zur Brust eingegrabenen und zum Tode durch Steinigen verurteilten Revolutionärin in Abadan trug zur allgemeinen Verwirrung bei und löste heftige Diskussionen über die willkürlichen Todesurteile im Iran aus.
Die Schlagzeilen übertrafen sich an absurden Behauptungen, die wildesten Spekulationen und Theorien wurden den verwirrten Lesern und Fernsehzuschauern genauso angeboten wie abstruse wissenschaftliche Erklärungen dieser spektakulären Ereignisse. Einige vermuteten sogar, dass das Ganze eine Werbekampagne eines in Vergessenheit geratenen Magiers wäre, der sich spektakulär zurückmelden wolle.
Der Illusionist dementierte entschieden. Dennoch untersuchte das FBI seine Kameras, Computer und sonstigen Geräte in seiner Lagerhalle, konnte aber nichts Verdächtiges finden. Außerdem hatte er ein wasserdichtes Alibi, weil er mit einigen Groupies auf Guadeloupe gewesen war, als die Menschen in allen Teilen der Welt verschwanden.
„Da haben wir aber eine echte Sensation erzeugt. Die ganze Welt ist in Aufruhr. Und das ist erst die Ouvertüre. Lass uns in die Halle gehen und nach unseren Gästen sehen.“
James betrat die Halle und ging an den beiden tief schlafenden Personen vorbei, die entspannt auf ihren bequemen Couchen lagen.
„Du siehst, sie fühlen sich sehr wohl“, vernahm er die vertraute heisere Stimme, „heute holen wir uns zwei weitere Gäste. Der erste lebt in Israel. Es ist ein Beduinenjunge, der aus Nordafrika hergezogen ist. Er durchleidet gerade eine Phase der unvernünftigen Selbstaufgabe und erlebt eine tiefe Depression durch das Gefühl der Ausweglosigkeit.
Es wird ein leichtes Spiel für uns, ihn zu überzeugen, weil wir ihm eine neue Perspektive und neuen Lebensmut geben werden.“
30.12., 9.55 Uhr GMT, Bir Nabal, Israel
Der 16-jährige Beduine Omar Gouled schaute mit ausdruckslosen Augen dem israelischen Militärkonvoi hinterher, der seinen Vater und andere Dorfbewohner zu einem ihm unbekannten Ziel verschleppte. Erst vor wenigen Minuten hatten sie noch bei ihrem kargen Frühstück zusammen gesessen, als plötzlich die Tür eingetreten wurde, mindestens 20 schwerbewaffnete israelische Elitesoldaten ins Haus stürmten und seinen Vater mit ihren Gewehrkolben nieder schlugen. Dann schleppten sie zu viert seinen leblosen Körper zu einem LKW, indem jeder von ihnen roh einen Arm und ein Bein seines leblosen Vaters ergriff, und warfen ihn wie einen Sack Mehl mit Schwung auf die eiserne Ladefläche. Omar fürchtete nicht zu Unrecht, dass sein Vater mit schweren Blutergüssen und Prellungen am ganzen Körper oder eventuell einigen Knochenbrüchen aufwachen würde, falls ihn die brutalen Kolbenhiebe nicht sogar getötet hatten. Sein Hass auf die verbrecherischen Israelis, die fast alle Mitglieder seiner palästinensischen Familie verhaftet und spurlos hatten verschwinden lassen, war grenzenlos. Im letzten September hatten israelische Soldaten auch noch seine Siedlung geteilt, indem sie eine acht Meter hohe Mauer quer durch sein Dorf in den Boden rammten. Sie hatten jedes beim Mauerbau störende Haus einfach gesprengt oder mit Bulldozern platt gewalzt, natürlich ohne die Eigentümer zu entschädigen. Omar und seine Familie lebten seitdem östlich der neuen Mauer, die ihnen den Zugang zu Wasser und Strom abschnitt. Ihr einziger Zugang zum Wasser war ein unter der Mauer durchlaufender Schlauch, der an einen Wasserhahn auf der anderen Seite der Mauer angeschlossen war. Um Wasser zu erhalten, mussten Omar und seine Familie immer an der Mauer rufen und einen Dorfbewohner des westlichen Teils bitten, den Hahn aufzudrehen. Auch der direkte Zugang zu ihrem Vieh war ihnen durch die Mauer versperrt worden, und sie mussten nun für 300 Schekel pro Tag Futter von einem Bewohner auf der anderen Seite der Mauer zu ihrem Vieh bringen lassen. Omar selbst, der vor dem Bau der Mauer zu Fuß zur Schule gehen konnte, musste täglich einen zweistündigen Umweg über den nächstgelegen Checkpoint Qalandia nehmen und von dort dann noch mit einem Bus nach Bir Nabala fahren.
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