Den demütigenden Spott der israelischen Grenzsoldaten am Checkpoint über „Kameltreiber, die zum Arsch abputzen ihrer Tiere sowieso keine Bildung bräuchten“, ließ er jeden Tag mit zusammengebissenen Zähnen über sich ergehen. Doch die brutale Verhaftung seines Vaters heute Morgen hatte das Fass zum Überlaufen gebracht und ihn davon überzeugt, seinen lange gehegten Plan in die Tat umzusetzen. Er war fest entschlossen, sich zum Selbstmordattentäter ausbilden zu lassen, sich in die Luft zu sprengen und so viele wie möglich seiner verhassten Feinde mit in den Tod nehmen. Sein einziges Problem war, dass er noch nicht wusste, wie er das seiner Mutter beibringen sollte.
Von dem Konvoi war nur noch eine Staubwolke zu sehen, die sich langsam auflöste. Ruhig und mit einem Lächeln auf den Lippen trat Omar über die zertrümmerte Tür in den völlig verwüsteten Wohnraum seines Elternhauses. Seine tief verschleierte Mutter Tabitha hielt seine beiden leise schluchzenden kleinen Schwestern im Arm. Als er eintrat richtete sie ihre tränennassen Augen auf ihn und sah ihn fragend an.
„Haben sie Vater mitgenommen? Oder ist er ...“
Sie brach mitten im Satz ab, ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Omar fuhr herum und blickte in die tiefblauen Augen eines schlanken blonden Mannes.
„Scheiß Mossad-Agent“, schrie er und wollte dem Fremden ins Gesicht schlagen. Dieser wich geschickt aus.
„Du irrst, Omar, ich bin nicht vom Mossad. Ich möchte dich nur zu meiner Party einladen.“
Mit unendlicher Verblüffung sah Omar, wie der Fremde einen kupfernen Stab auf seine Stirn richtete und ein Blitz auf ihn zuraste. Der verzweifelte Schrei seiner Mutter wurde wie mit dem Aus-Knopf seiner TV-Fernbedienung abgeschnitten, und er fiel in ein dunkles Loch ...
„Das war einfach, nicht wahr, James? Aber ruh dich trotzdem etwas aus. Heute Nachmittag holen wir jemanden aus Nordamerika ab. Es ist eine griechische Spitzensportlerin. Sie besitzt weibliche Kraft und Durchsetzungsvermögen und ist sehr tüchtig und sehr erfolgreich. Sie ist aber auch konservativ, will Bewährtes bewahren. Deshalb wird sie unser Anliegen sofort verstehen und sich uns anschließen. Allerdings ist sie weltberühmt, so dass ihr Verschwinden uns wieder eine riesige Publicity bescheren wird. Es ist sowohl hilfreich als auch gefährlich, die Weltaufmerksamkeit auf sich zu lenken. Denn auch unsere Freunde vom Northern Cross werden natürlich aufmerksam werden. Aber das gehört zum Spiel.“
30.12., 16.20 Uhr EST (Eastern Standard Time), Flushing Meadows, New York
„17:16 Ms. Niassos“, ertönte die nasale Stimme der blasierten Stadionsprecherin von Flushing Meadow, die die Zwischenstände beim Damenfinale des Sylvestertennisturniers in New York verkündete. Es spielte die bildhübsche derzeitige Nummer eins des Damentennis, Stefanie Niassos, gegen die muskulöse und sehr maskulin wirkende Nummer 2, Sandy Maine aus Arkansas. Stefanie hatte im dritten und entscheidenden Satz Aufschlag zum Satz- und Spielball beim Stande von 6:6 im Tiebreak. Während sie sich den vielleicht alles entscheidenden Tennisball zuwerfen ließ, überlegte sie sich ihre Aufschlagsvariante. Sie entschloss sich, ihren Aufschlag als Topspin zu spielen, weil Sandy bestimmt einen Slice erwartete. Unter den gespannten Augen der 20.000 Zuschauer in der total ausverkauften Tennisarena ließ sie den Ball zweimal aufticken, bevor sie ihre Füße in die richtige Position an der Grundlinie platzierte und ihrer Gegnerin den Rücken zuwandte. Sie würde den Ball mit einem Rückwärtsspin hochwerfen und ihn genau am Zenit seiner Flugbahn treffen. Sie schloss die Augen und ließ den perfekt einstudierten Bewegungsablauf noch einmal blitzschnell vor ihrem geistigen Auge ablaufen, als in ihrer Projektion auf einmal ein lächelndes Männergesicht auftauchte und sie in ihrem Kopf eine leicht heisere Stimme vernahm.
„Stefanie, sorry, aber das Match ist für dich beendet. Willkommen auf meiner Party.“
20.000 fassungslose Augenpaare sahen ohne zu begreifen, wie Stefanies Tennisschläger samt Ball und ihrem sexy pinkfarbigen Outfit auf den harten Boden des Centrecourts knallten, während Stefanie sich in Luft aufgelöst hatte und verschwunden war...
31.12., 8.45 Uhr GMT, Hans Place, London
„Einen Kaffee?“
Chiefinspektor Paul Fryer nickte griesgrämig. Die Lektüre der „Sun“ hatte ihm den klaren Wintermorgen gründlich verdorben. Als er seine luxuriöse Vierzimmerwohnung am Hans Place in Kensington verließ, war die Welt noch in Ordnung gewesen. Wie immer hatte er einen letzten prüfenden Blick in seinen zwei Meter hohen venezianischen Garderobenspiegel geworfen und selbstgefällig seine makellose Erscheinung genossen. Er trug ein von Dege & Skinner in der Savile Row maßgeschneidertes kleinkariertes Sakko in dezentem Grün, das durch ein gelbes Einstecktuch noch eleganter wirkte und seine schlanke Figur perfekt definierte. Zu seinem blauen Maßhemd von Turnbull & Asher aus der Jermyn Street hatte er nach sorgfältiger Prüfung seiner gut 80 Krawatten eine grüngelbe Paisley-Krawatte von Hermès ausgewählt. Die graue Flanellhose mit einem braunen Krokodilledergürtel harmonierte mit seinen rotbraunen italienischen Budapesterschuhen, die er bei demselben Schuster in Florenz anfertigen ließ, der während seiner Abwesenheit auch seinen Landsitz in der Toskana betreute und ihn immer mit exquisiten Rotweinen aus der Region versorgte. Seine trotz seiner 62 Jahren immer noch schwarzen Haare hatte er eng an seinen Kopf anliegend nach hinten gekämmt, so dass seine hohe Stirn und seine klugen braunen Augen mit dem stets spöttischen Ausdruck gut zur Geltung kamen.
Er betrachtete prüfend sein perfekt abgestimmtes Ensemble. Obwohl er seine geringe Körpergröße von 1,67 Meter sein Leben lang als Handicap empfunden hatte, war er mit seiner Erscheinung zufrieden. Seit dem Tod seiner Frau lebte er nur noch für seine Markenklamotten und seine toskanischen Weine aus kontrolliertem Anbau. Dieser armselige Materialismus war ein ständiger Streitgrund zwischen ihm und seiner aufmüpfigen Tochter. Bei dem Gedanken an sie verzog er seinen schmallippigen Mund zu einem schiefen Grinsen. „Wenn es einen Gott gibt, so liebt er deinen Vater, mein Kind. Der ist nämlich ein gelungenes Designermodell eines Mannes mit Stil.“ Er liebte diese zynischen Floskeln, war er doch als Einzelkind in einer Juristenfamilie aufgewachsen, die Zynismus und Großspurigkeit zu absoluten Werten erhoben hatte.
Aber jetzt war seine gute Laune vom frühen Morgen wie weggeblasen. Er konnte sich vorstellen, was ihn gleich in seinem Büro im New Scotland Yard alles erwarten würde. Seit er sich kurz vor seiner Pensionierung von der Mordkommission in die Abteilung von – wie er sie nannte – „Lost and Found“ hatte versetzen lassen, stellte er sich immer öfter existentielle Fragen. Was veranlasste Menschen, von einem Augenblick zum anderen alles stehen und liegen zu lassen und spurlos unterzutauchen? Verzweifelte Ehefrauen, Kinder und Geschäftspartner blieben zurück, ohne die geringste Ahnung zu haben, was das Motiv des Untergetauchten war. Keiner schien ihn wirklich zu kennen. Gestern erst hatte er das Protokoll über das unerklärliche Verschwinden des Dekans der Universität von Oxford in Händen gehalten, den seine aufgelöste Frau am Abend des 28. Dezember als vermisst gemeldet hatte. Und jetzt das.
Weltweites sich-in-Luft-Auflösen schien ein neuer Volkssport geworden zu sein. Dieser slowakische Skispringer, der sich vor den Augen von 40.000 Zuschauern und laufenden Kameras während seines Skiflugs spurlos verabschiedet hatte, regte ihn unendlich auf. Der ebenso spektakuläre Abgang dieser griechischen Tennisspielerin verursachte ihm Sodbrennen. Er nahm diese Scheiße persönlich. Irgendjemand wollte ihm einen gewaltigen Arschtritt verpassen und ihm seinen sauberen Abschied von Scotland Yard vermasseln. Er seufzte und bewunderte insgeheim das Leben des alten Kellners, der ihm gerade schlurfend seinen Kaffee brachte. Vermutlich ein einfaches Leben ohne Höhen und Tiefen mit einem sauberen schnellen Herztod, der ihn gnädiger weise im Schlaf ereilen würde. In diesem Augenblick ahnte er, dass sich sein gerade wieder geordnetes Leben massiv verändern würde.
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