Ich hätte gar nicht gedacht, dass das so schön ist, tot zu sein. Denn ich bin gar nicht tot. Nur mein Körper liegt jetzt tot hier auf dem Boden. Aber ich lebe noch. Ja, ich lebe noch. Oh, und wie schön das ist. Ich bin jetzt Geist. Es ist alles noch genau so wie vorher.
Nur bin ich nun einfach ein Geist. Ich stehe plötzlich neben meiner
Leiche.
Die Menschen vor dem Käfig, in höchster panischer Angst ihre Hände hoch haltend, sie sehen mich und die anderen nicht mehr. Sie starren
durch das Gitter hindurch auf den Boden zu meinem Körper und zu den anderen die jetzt gerade alle hier umfallen. Nur unsere Leichen sehen sie.
Die Bedrohten vor dem Käfig haben nur noch Todesangst und stehen unter Schock.
Der Todesschütze ist gerade dabei, alle hier im Käfig neben mir im
Eilverfahren zu erschießen. Ein paar mal muss er nachladen. Das geht alles zack-zack.
Und diejenigen vor dem Käfig taumeln in Todesangst, auch erschossen
zu werden. Manche von ihnen werden ohnmächtig und fallen einfach um. Andere fangen sie manchmal auf und halten sie fest.
Und ich sehe diese Menschen da draußen vor dem Gitter noch so wie ich sie vorher gesehen hatte. Und plötzlich stehen die Erschossenen alle
neben mir hier als Geister. Wir sehen uns.
Wir bewundern uns gegenseitig. Hören tue ich alles noch ganz genau so wie vorher. Ja, ich rieche alles so wie vorher. Und ich fühle noch eben so.
Sogar den Geschmack habe ich noch in meinem Mund.
Ach, und ich fasse durch den Käfig hindurch und ziehe am Ärmel von diesem Schützen, der mich eben erschossen hat. Ich tue das, um zu
prüfen, ob ich jetzt wirklich ein Geist bin. Ich wollte noch versuchen, ihn daran zu hindern, dass er weitere Menschen erschießt. Er merkt es nicht.
Und ich betaste den Lauf des Gewehres, vorne am Ende, wo so viele
Kugeln eben raus kamen, die uns alle gerade erschossen haben, und fühle, dass der Lauf noch sehr heiß ist. Und ich befühle meinen Körper,
der hier tot liegt, an der Stirn. Ich fühle wie er langsam kalt wird. Jedoch
fühle ich mich vollkommen leicht. Und es ist angenehm, diesen schwe- ren, materiellen Körper endlich los geworden zu sein. Die körperlichen
Schmerzen waren auf einmal weg. Ja, ich bin froh.
Oh, Gott, wie schön das ist. Es ist so wunderbar, tot zu sein. Ich kann jetzt nicht nur hören, was die Menschen vor dem Käfig reden. Ja, ich bin nun auch ganz verblüfft über etwas Neues. Denn ich kann sogar ihre Gedanken wahrnehmen. So als ob ich sie in meinem eigenen Kopf verstehen würde. Jedoch gesondert von meinen eigenen Gedanken. Das ist unglaublich und jetzt ganz neu für mich. Ich kann tatsächlich ihre Gedanken erfassen. Solange ich will. Wenn ich nicht mehr will, dann kann ich die Erkennung ihrer Gedanken ausschalten, so als würde ich einfach weghören.
Der Mann der mir helfen wollte, er steht jetzt absolut unter Schock. Er zittert und bebt am ganzen Körper. Mit leiser, gebrochener Stimme sagt
er zu den uniformierten, bewaffneten Männern: „Warum tun Sie so
etwas? Warum haben Sie sie alle und diesen netten Mann erschossen? Er hatte ihnen doch gar nichts getan.“
„Er wollte nicht arbeiten.“ bekam er zur Antwort. „Ich habe den aus- drücklichen Befehl, dass ich alle erschießen muss, die nicht arbeiten
wollen. Und Sie da, junger Mann, Sie werden sich nach den weiteren
Befehlen richten müssen, die jetzt dann gleich auf Sie zukommen.“
Die fünf Hyänen stehen in diesem Augenblick nun gleichzeitig auf und heben ihre schauderhaften Köpfe hoch. Darunter kommen fünf ganz
normale Gesichter uniformierter Frauen zum Vorschein. Die Masken legen sie auf den Boden. „Wir haben jetzt Mittagspause.“ sagen sie
gemeinsam zu den beiden Männern mit den Gewehren, wie in einem
Chor, während sie die Reißverschlüsse ihrer Tierkostüme öffnen und aus ihnen hervor schlüpfen, ziehend an den Ärmeln und Beinen. Dann
schließen sie die Gittertüre des Käfigs auf und gehen, ohne uns noch
weiter zu beachten, davon.
Die Tür lassen sie offen. Denn hier drinnen liegen nur noch Tote, mei- nen sie. Ach, und wenn sie sie wieder zu gemacht hätten, dann würden
wir eben einfach durch das Gitter hindurch schweben.
Der Todesschütze und der Mann der mir Hilfe anbot, kommen nun herein. Sie wissen es nicht, dass wir als Körper und Geister getrennt hier
sind und dass wir nicht tot sind, nur unsere Körper hier tot liegen. Wir stehen alle nun lediglich als Geister hier, die sie aber selbstverständlich
nicht sehen können.
Der andere Uniformierte bedroht diejenigen außerhalb des Käfigs noch immer mit seinem Gewehr. Er hat alles im Griff, so meint er jedenfalls.
Da bricht dieser freundliche Mann der mir helfen wollte, zusammen. Er
wirft sich über meinen toten Körper, drückt ihn ganz fest und herzlich, als ob er mich verloren hätte, als ob ich tot wäre. Und er sagt zu mir,
nicht ahnend, dass ich als Geist daneben stehe: „Kommen Sie gut in den
Himmel! Kommen Sie gut in den Himmel! Mein lieber Freund. Sie waren so ein guter Mensch. Das hatte ich eben gemerkt. Wir haben uns doch gerade kennengelernt. Und jetzt sind Sie schon tot.“ Plötzlich duzt er mich. „Komm gut in den Himmel! Komm gut in den Himmel! Gott nimmt
Dich sicher auf. Freund. Du kommst bestimmt ins Paradies. Du warst so lieb. Gott hat Dich selig im Frieden und lieb im Himmel.“ Ich kann seine
Gedanken wahrnehmen und weiß daher, dass er es tatsächlich ehrlich
meint. Wir hatten uns gerade angefreundet und wir mögen uns.
Der Mörder, der mich gerade erschossen hat, er sagt: „Muss das sein? Reiß dich doch mal ein bisschen zusammen! Ist doch vollkommen
lächerlich, was du hier abziehst. Hier wird nicht gejammert. Jeder
kommt mal dran. Du auch. Da hilft dieses ganze Winseln und Flennen nichts.“
Bebend vor Trauer, Angst, Verzweiflung und Leid wehrt sich der liebe
Mann von diesem brutalen, uniformierten Mörder ab, indem er ihm mit der Faust an den Stiefel schlägt.
Hierauf haut der Massenmörder ihm einen sehr heftigen Tritt in die
Seite neben dem Bauch rein.
So dass der mir beistehende Mann unter nach Luft ringenden Stoß- schreien sich vor Schmerzen auf dem Boden windet und krümmt.
Mit den Worten „Das hast du nun davon. Du Schwuchtel.“ grinst ihn
der Massenmörder zynisch an.
Der mich auf seine Weise liebende Mann beginnt zu weinen und plötz- lich sagt er zitternd und mit zärtlicher leiser Stimme, mich festhaltend,
neben meiner Leiche kniend: „Lieber Freund, ich muss jetzt für Dich
beten. Ja. Ich muss jetzt für Dich beten.“ Und dann betet er ein ´Vater unser` für mich:
„Vater unser.
Der Du bist im Himmel. Geheiligt werde Dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe.
Wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld.
Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung.
Sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn Dein ist das Reich
und die Kraft
und die Herrlichkeit. In Ewigkeit.
Amen.“
In diesem Moment kommt eine Truppe uniformierter Männer mit Särgen aus Metall in totaler Hektik lärmend angerannt. Sie kommen mit einer Geräuschkulisse herbeigeeilt, die sich geradezu so anhört als ob eine Kanone einen knallenden Schuss nach dem anderen abgibt. Mit den Särgen hauen sie so herum, dass es metallisch so laut kracht, dass uns Geistern fast auch noch die Trommelfelle dabei zerplatzen.
Diese Bestattungsbeauftragten stellen die Särge neben die toten Körper auf den Boden und öffnen sie. Sie sind mit Eiswürfeln gefüllt. Sie schub- sen den trauernden Mann von meinem toten Körper weg. Zwei von ihnen packen ganz schnell meine Leiche. Der eine nimmt sie an den Schultern und der andere umgreift meine ehemaligen Beine. Sie legen meine Leiche auf die Eiswürfel und schließen den stählernen Sarg sofort wieder. Genauso machen es die anderen mit den noch weiteren Leichen. Sodann eilen sie mit den Särgen auch schon wieder weg.
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