lag nun schon seit fünfzehn Jahren im Kerker und war
in dieser Zeit niemals satt geworden. Sie flehte inniglich
zu Gott, daß er sie aus diesem Elend erlösen
möge, denn der Hunger und die Not quälten sie gar
sehr. Als die Barone versammelt waren, wurde das
Urteil dahingehend gefällt, daß die Königin am folgenden
Tage verbrannt werden sollte, wenn sie keinen
Kämpfer fände, der sie verteidigen würde.
Da ereignete es sich, daß unser Herr Jesus Christus,
der nicht wollte, daß die Frau umkäme, einen
seiner Engel zum Einsiedler in den Wald sandte, welcher
zu ihm folgendermaßen sprach: »Eremit, Gott
befiehlt dir, daß du morgen frühe deinen Knaben in
die Stadt Illefort sendest, damit er seine Mutter, welche
die Gattin des Königs Oriant ist, vor dem Feuertode
rettet. Er und die sechs anderen Kinder sind
Söhne des Königs Oriant und der Königin Beatrix.
Matabrune hat sie verleumdet, sie habe sieben Hunde
geboren, und darum soll sie morgen verbrannt werden,
wenn ihr keine Hilfe kommt. Aber Ihr sollt nicht
zweifeln, daß ihr Gott helfen wird.« Fernerhin befahl
er, daß der Knabe getauft werde und den Namen Helias
erhalte. Darauf verschwand der Engel. Als der
Tag angebrochen war, weckte der Einsiedler den Knaben
und sprach zu ihm: »Lieber Sohn, erhebe dich; du
mußt nach Illefort gehen, deine Mutter vor dem Feu-
ertode retten und von dem Verbrechen, dessen sie Matabrune
beschuldigt hat, reinigen. Ferner mußt du dich
taufen lassen und ein Christ werden, und du sollst den
Namen Helias tragen.« Der Eremit machte ihm einen
Mantel aus Laub und bekleidete ihn damit; dann
nahm er eine Stange in die Hand, und der Einsiedler
begleitete ihn bis zum Waldesrande. Hier sprach er zu
ihm: »Lieber Sohn, sei tapfer und verständig! Wisse,
daß du der Sohn des Königs Oriant bist und sei versichert,
daß Gott dir helfen wird.« Darauf wies ihm der
Einsiedler den Weg und zeigte ihm Illefort, wohin er
gehen müsse. Dann trennte sich der Einsiedler von
ihm, und der Knabe ging, um seine Mutter von der
Schuld, deren sie Matabrune bezichtigt hatte, zu reinigen.
Matabrune hatte durch Zauber erfahren, daß die
Königin durch eines ihrer Kinder gerettet werden sollte,
und sie schickte ihm unverzüglich zwei Diener entgegen,
die ihn töten sollten. Der Knabe begegnete
ihnen und fragte sie, welcher von ihnen seine Mutter
wäre, denn er hatte nie ein Weib gesehen. Die Diener
hielten ihn für toll; sie wußten jedoch, daß er es wäre,
um dessentwillen sie ausgesandt waren. Einer zielte
nach ihm, und der andere packte ihn. Da sprach das
Kind: »Welches ist Matabrune? Mein Vater sagte
mir, ich solle mich an sie wenden, und so will ich es
tun.« Dann nahm er seinen Stock und zerschlug dem
einen die Schulter, darauf schlug er ihn so heftig, daß
er ihm den Kopf zerschmetterte. Da wandte sich der
andere zur Flucht, und der Knabe kam ungehindert
nach Illefort.
Als der Knabe in Illefort angekommen war, wunderte
er sich höchlich über die Leute, die dort waren,
und er sprach, er hätte nie geglaubt, daß es so viele
Einsiedler auf der Welt gäbe, denn nie hatte er so viel
Volks gesehen. Darauf gewahrte er den König, der
sein Schwert umgegürtet hatte und auf einem Rosse
ritt. Der Knabe hatte große Furcht. Als der König ihn
erblickte, verwunderte er sich sehr, denn er glich
einem Narren. Der Knabe trat auf den König zu und
befragte ihn über alles, was er sah, und der König
stand ihm gutmütig Rede und Antwort. Der Knabe
fragte ihn nach dem Pferd, dem Zügel und dem
Schwert sowie nach anderen Dingen; dann vernahm er
einen Schrei und fragte, was das bedeute. Der König
sagte ihm: »Freund, ich habe eine Frau, welche ohne
Treu und Zucht war, sie hat mir sieben Hunde geboren
und meine Barone haben sie verurteilt. Nun führt
man sie zum Scheiterhaufen.« – »Ha, guter König,«
versetzte der Knabe, »Ihr habt sie zu Unrecht verurteilt,
denn das, was Ihr sagt, ist niemals wahr, und
niemals tat sie solches. Vielmehr hat sie irgend jemand,
Eure Mutter oder sonst wer, der sie nicht liebt,
so treulos verleumdet. Wenn nun jemand käme, der
für sie kämpfen wollte und denjenigen besiegen
würde, der sie eines solchen Vergehens zeiht, wäre es
dann nicht billig, daß die Frau ihrer Fesseln los und
ledig würde?« – »Sicherlich, ja,« sprach der König,
»und ich wäre sehr froh darüber.« – »Herr,« erwiderte
der Knabe, »ich bin gekommen, um für die Frau zu
kämpfen, und ich will sie verteidigen!« Als der König
seinen Sohn also reden hörte, wurde er sehr froh, aber
er erkannte ihn nicht. Da ging der König zu seiner
Mutter und sprach: »Mutter, es wäre grausam, diese
Frau zu verbrennen. Bei Gott! Laßt sie in Ruhe, denn
Ihr sündigt, wenn Ihr sie dieses Vergehens anklagt.
Wenn Ihr aber darauf besteht, daß es so ist, so müßt
Ihr einen Kämpfer suchen, der bestätigt, was Ihr
gegen sie vorgebracht habt. Denn die Frau hat einen
Kämpfer gefunden, der sie gut verteidigen wird.« Als
Matabrune dieses hörte, wurde sie zornig, denn sie
sah ein, daß sie einen Kämpfer haben müsse. Sie ging
zu Malquerre und sprach zu ihm: »Malquerre, lieber
Freund, du mußt diesen Kampf gegen den Knaben bestehen.
Und wenn der Knabe tot und die Frau verbrannt
ist, so werden wir suchen, meinen Sohn umzubringen,
dann bin ich Herrin und Königin in Illefort,
und dann werden wir beide miteinander unsere Lust
haben.« – »Herrin,« erwiderte er, »Ihr müßt schwören.
Denn wenn ich schwören wollte, so würde ich
einen Meineid leisten.« – »Malquerre,« sagte Matabrune,
»darum sorge dich nicht! Ich verbiete es dir,
daß du die Wahrheit sagst.« – »Herrin,« entgegnete
Malquerre, »ich werde Euern Befehl erfüllen.« Darauf
begab sich Matabrune zum König und sprach: »Nun,
König, laß deinen Knaben wappnen!« – »Gern, Mutter!
« – »Herr,« sprach der Knabe, »ich will zuerst getauft
werden, denn mein Vater, der Einsiedler, sagte
mir, ehe ich von ihm schied, daß ich getauft werden
und den Namen Helias erhalten solle.« Da ließ man
den Knaben taufen, und er erhielt den Namen Helias.
Es waren aber mehrere Barone am Hof, die sprachen:
»Um Gottes willen, König, behaltet den Knaben bei
Euch, denn er ist wunderschön, und Ihr müßt wissen,
daß er Euch ähnlich sieht.« Darauf ließ der König den
Knaben bewaffnen und mit reicher Rüstung bekleiden.
Auch Malquerre wurde prächtig ausgerüstet.
Dann trug man die Heiltümer herbei, und zuerst
schwur Malquerre, daß er die Königin habe bei einem
Hunde liegen und sieben Hündlein zur Welt bringen
sehen. Darauf wollte er das Heiltum küssen, aber er
vermochte es nicht, sondern er schwankte, und sogleich
sagten die Barone, daß er meineidig wäre. Nun
schwur der Knabe Helias und sagte, daß alles erlogen
sei, daß die Königin nie an solche Schandtat gedacht
und daß sie jederzeit brav und züchtig mit dem
König, ihrem Herrn, gelebt habe. Alle insgemein beteten
für Helias, daß Gott ihm helfen möge, Malquerre,
den Verräter, zu vernichten.
Siehe, da trat der Knabe zu seiner Mutter und
sprach: »Herrin, vertraut auf Gott und seine Mutter,
denn wisset wohl, daß ich mit Gottes Hilfe Euch von
dem Vergehen reinigen werde, dessen Euch die alte
Читать дальше