Joachim Burdack
Letzte Tage am Savignyplatz
George Grosz in Berlin 1959
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Inhaltsverzeichnis
Titel Joachim Burdack Letzte Tage am Savignyplatz George Grosz in Berlin 1959 Dieses ebook wurde erstellt bei
Prolog
1. George zurück am Kurfürstendamm
2. Albert fährt zum Sachsendamm
3. Wieland im Morgengrauen auf dem Balkon
4. Der Schöne Eddy: eine Karriere in Berlin
5. See You Later, Aligator! Wie Albert und Inge sich kennenlernten
6. Carlos, der falsche Spanier
7. George schaut auf den Savignyplatz
8. Der Kinderwagen in der S-Bahn
9. George, Wieland und ein sonniger Tag auf dem Lande
10. Alberts Rendevous
11. Georges Wiedersehen mit Jack Bilbo
12. Evi singt La Traviata
13. Kapt’n Bilbos Hafenspelunke
14. George und der Abenteurer
15. Dieter kauft im Osten ein
16. Lonely Boy Albert
17. George stürzt
18. Der Dienstag danach
Epilog
Literatur und Quellen (Auswahl)
Impressum neobooks
1959 gab es in Berlin zwei Stadtverwaltungen - den Magistrat in Ost-Berlin und den Senat in West-Berlin, zwei verschiedene Währungen und vier Besatzungszonen. Im Alltag funktionierte die Stadt jedoch noch weitgehend als Ganzes. S-Bahn und U-Bahn zirkulierten ungehindert zwischen den Stadthälften. Grenzkontrollen fanden nur stichprobenartig statt. Aus dem Osten kamen jeden Morgen Zehntausende, um in West-Berlin zu arbeiten und auch in umgekehrter Richtung gab es zahlreiche Pendler. Hunderttausende passierten täglich die Grenze, zum Beispiel um einzukaufen, für Verwandtenbesuche oder um ins Kino zu gehen. Ostdeutsche nutzten die offene Grenze, um die DDR für immer zu verlassen.
Seit dem Ende des Krieges hatte man in Berlin Trümmerlandschaften, Blockade, Luftbrücke, den Aufstand am 17. Juni und Chruschtschows Berlin-Ultimatum erlebt. Es lässt sich schlecht sagen, ob die Berliner sich daran gewöhnt hatten in ständiger Krise zu leben, aber sie hatten sich zumindest damit arrangiert. Sie registrierten die täglich schwankenden Wechselkurse von West- und Ostmark so selbstverständlich wie den Wetterbericht und nutzten Vorteile, die sich aus Preisunterschieden für Konsumgüter und Dienstleistungen in Ost und West ergaben. Man musste schließlich sehen, wo man bleibt. Das Leben war hart und schenkte einem nichts. Diese Auffassung vereinte wohl die Menschen über die Grenze hinweg. In unsicheren Zeiten galt es, jenseits aller Ideologien und Sonntagsreden, beide Füße auf den Boden zu bekommen, oder wie der gerade auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof zur letzten Ruhe gebettete Bert Brecht es ausdrückte: ‚Erst kommt das Fressen und dann kommt die Moral‘ .
Viele der Geschichten von Albert, Dieter, Inge, dem Schönen Eddy , dem Verleger Wieland Herzfelde und dem Maler George Grosz, die hier erzählt werden, konnten sich nur in dieser Stadt, zu dieser Zeit ereignen. Ein paar Jahre später war alles anders: 1961 wurde die Grenze geschlossen und die Mauer gebaut.
Im Mittelpunkt der Erzählung steht George Grosz. Er war nach sechsundzwanzig Jahren im Exil im Juni 1959 nach Berlin zurückgekehrt. Keine vier Wochen später fand man ihn tot auf.
Mehrere Westberliner Tageszeitungen berichteten am 7. Juli 1959 in ihren Lokalteilen von dem tragischen Vorfall mit Todesfolge, der sich in der Nacht zum Montag in Charlottenburg ereignet hatte. Der Maler George Grosz war in einem Haus am Savignyplatz die Treppe hinuntergestürzt. Man hatte seinen Körper am Montagmorgen leblos aufgefunden. George Grosz, der vor dem Kriege ein bekannter Künstler war, floh 1933 vor den Nationalsozialisten nach Amerika und lebte seitdem in New York. Erst seit kurzem wohnte er mit seiner Frau wieder in Berlin.
In den folgenden Tagen erschienen in den Feuilletons vieler Zeitungen ausführliche Nachrufe. Man würdigte George Grosz als einen der führenden Vertreter der Neuen Sachlichkeit und des Dadaismus während der Weimarer Republik, der in seinen Bildern schon früh vor Hitler gewarnt hatte. In Würdigung seines zeichnerischen Genies wurde er in einem Artikel als der ‚ Daumier vom Kurfürstendamm‘ bezeichnet. Auch seine Zusammenarbeit mit führenden Theatermachern wie Erwin Piscator und Bertolt Brecht, sowie die daraus resultierenden Theaterskandale, fanden Erwähnung. Grosz‘ Werke waren im Dritten Reich als entartet diffamiert und aus deutschen Museen entfernt worden. Während des Krieges gingen viele Bilder aus seiner Berliner Zeit verloren.
Bedauernd wiesen einige Autoren darauf hin, dass die Werke, die Grosz später im amerikanischen Exil anfertigte, nicht mehr die Kraft und Intensität der frühen Arbeiten hatten. Ein Kritiker - offensichtlich ein Anhänger der abstrakten Malerei - fügte hinzu, Grosz habe, wie bedauerlicherweise viele Exilanten, den Anschluss an die neuen Entwicklungen der modernen Kunst verpasst. Dies sollte jedoch, so fuhr er fort, natürlich keineswegs die historische Bedeutung schmälern, die der Verstorbene für die Kunst in den zwanziger und dreißiger Jahren hatte. Sein Tod sei in jedem Fall ein großer Verlust.
Die Ermittlungen der Polizei zu den näheren Umständen des Todes waren von kurzer Dauer. Die Beamten stellten nach Befragung der Hausbewohner fest, dass niemand im Haus Savignyplatz Nummer 5 etwas von dem Vorfall in der Nacht mitbekommen hatte. Ein Mieter sagte zwar aus, gegen Mitternacht Krach im Treppenhaus gehört zu haben, aber so etwas käme leider öfter vor. Niemand erwähnte die mögliche Anwesenheit weiterer Personen.
Es gab jedoch Hausbewohner, denen durchaus etwas aufgefallen war. Sie zogen es aber vor, ihre Beobachtungen für sich zu behalten. In der Wohnung im 3. Stock rechts hatte die Polizei Frau Carola M. angetroffen, die dort mit ihrem Mann Friedrich M. wohnte. Der Gatte war nicht anwesend und bereits seit Freitagabend auf Geschäftsreise. Frau M. sagte wahrheitsgemäß aus, dass sie gegen Mitternacht fest geschlafen habe und dementsprechend nichts gehört hätte. Was sie nicht erwähnte - denn was ging das die Polizei an - war, dass sie nachts nicht alleine in der Wohnung war. Seit einiger Zeit unterhielt sie eine intime Beziehung zu Manfred T., einem Angestellten ihres Mannes, die immer dann auflebte, wenn ihr Fritz auf Reisen war. Der Hausfreund war nachts aufgestanden, um eine Zigarette zu rauchen, als er im Treppenhaus laute Stimmen hörte. Er vernahm auch ein heftiges Krachen und danach die Schritte mehrerer Männer, die die Treppe hinuntereilten. Da er aber weder Carola M. kompromittieren noch seine Stellung bei der Firma ihres Mannes gefährden wollte, zog Manfred T. es vor, sich nicht bei der Polizei zu melden.
Auch ein Bewohner im ersten Stockwerk hatte mehr mitbekommen als er preisgab. Erwin W. hatte gesehen, wie gegen Mitternacht ein Auto vor dem Haus vorfuhr. Der Wagen war ihm aufgefallen, da ein Bekannter sich auch gerade dieses Modell gekauft hatte. Sogar die Farbe schien die gleiche zu sein, soweit sich dies im Licht der Straßenlaterne feststellen ließ. Er sah dann auch, wie zwei Männer aufgeregt aus der Haustür stürmten und in den Wagen einstiegen. In dem Mann, der sich hinter das Steuer setzte, erkannte er eindeutig seinen Bekannten. Als die Polizei am Montagvormittag bei Erwin W. klingelte und von dem Todesfall berichtete, zählte er eins und eins zusammen, sagte aber nichts. Warum sollte er den Behörden Informationen umsonst geben, aus denen sich mit etwas Verstand gutes Kapital schlagen ließ?
Die polizeilichen Ermittlungen ergaben, dass der am 22. Juli 1893 in Berlin geborene, amerikanische Staatsbürger George Grosz nach Mitternacht in stark angetrunkenem Zustand vor der Wohnung seiner Schwägerin, die er zur Zeit bewohnte, die Treppe hinuntergestürzt war. Dabei hatte er sich die tödlichen Verletzungen zugezogen. Er war zuvor in der gegenüberliegenden Gastwirtschaft gesehen worden, wo er mehrere Biere und Schnäpse getrunken hatte. Die Polizei schloss Fremdeinwirkung bei dem Sturz im Treppenhaus aus. Der Fall schien klar: Es gab keinen Fall. Es war ein Unfall.
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