Das mit dem Scheitern erinnerte Albert nun wieder an seinen Namensvetter und französischen Lieblingsautoren Albert Camus. In seinem Buch über den Mythos von Sisyphos schilderte der das ewige Scheitern als etwas zutiefst Menschliches, als wäre der Mensch geradezu zum Scheitern geboren. Der alte Sisyphos hatte gegen die Götter rebelliert und war deshalb von ihnen dazu verurteilt worden, einen Felsblock den Berg hinaufzuwuchten, nur um dann sehen zu müssen, wie der Stein immer wieder ins Tal rollt. Dann ging die Sache wieder von vorne los, ganz schön sinnlos. Camus aber schreibt dazu: Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen!
Was sollte das nun wieder bedeuten? Ist Sisyphos glücklich, weil er etwas zu tun hat und sich keine Gedanken machen muss, wie er den morgigen Tag rumbringt? Oder schaut er einfach gerne zu, wie ein Stein bergab rollt? Jedenfalls war Camus leider wenig hilfreich beim Lösen von Matheaufgaben.
Um es überhaupt mit den Schularbeiten auszuhalten, machte Albert das Radio an. Seit seine große Schwester ausgezogen war, hatte er das Zimmer für sich alleine. Evi hatte immer nur Sender mit klassischer Musik eingeschaltet, was Albert furchtbar nervte. Jetzt konnte er hören, was er wollte. Das war echter Luxus.
Es war gerade fünf Uhr geworden, Zeit für AFN. Zu dieser Zeit lief auf AFN-Berlin immer Frolic At Five mit den neuesten Hits. Der Sender der amerikanischen Streitkräfte war ursprünglich eingerichtet worden, um die GIs mit Musik und Nachrichten aus der Heimat zu versorgen. Mit der Zeit aber wurde er zur ersten Adresse für musikbegeisterte Jugendliche in Berlin und Umgebung. Kaum hatte Albert das Radio angeschaltet, hörte er auch schon die Titelmelodie und die vertraute Moderation des Discjockeys , wie man die Ansager von Musiksendungen neuerdings nannte. » Hey, hey, hey what do you say? It’s time for another edition of Frolic At Five! «
Im AFN hatte Albert zum ersten Mal Elvis Presley und Buddy Holly gehört. Heute, am Mittwoch, wurden immer Hörerwünsche gespielt. Auch Albert hatte eine Karte an den Sender geschickt und sich Diana von Paul Anka gewünscht, mit Widmung ‚… for the pretty girl in Pankow from the lonesome boy in Charlottenburg ‘. Vielleicht hatte er Glück und sein Wunsch würde heute gespielt. Beim AFN konnte er wenigstens sicher sein, dass sie das Original von Paul Anka spielten und nicht den lauwarmen, deutschen Aufguss von Conny Froboess wie im RIAS. Das Girl in Pankow war natürlich Inge, für die er seit ein paar Monaten schwärmte. Eigentlich hätte er sich ja einen Song von Bill Haley wünschen sollen, denn er hatte Inge beim Konzert von Bill Haley and his Comets im letzten Oktober kennengelernt. Aber Diana war natürlich viel romantischer. Albert träumte noch so vor sich hin, als sich die Tür öffnete und seine Mutter eintrat.
»Möchtest du eine Tasse Pfefferminztee, Berti? Ich stell‘ sie dir auf den Tisch, das heißt, falls ich hier noch einen freien Platz finde bei diesem Tohuwabohu. Du könntest dein Zimmer mal wieder aufräumen. Wie kannst du überhaupt bei dieser Urwaldmusik arbeiten? Da wird man doch ganz verrückt im Kopf.«
»Danke, Mutti. Die Musik hilft mir bei der Konzentration, und weißt du, was Camus über Ordnung sagt? Äußere Ordnung ist oft nur der verzweifelte Versuch, mit einer großen inneren Unordnung fertig zu werden .« Camus half zwar nicht bei Matheaufgaben, aber für einen guten Spruch war er immer zu gebrauchen.
»Wo hast du denn diesen Unsinn her, Junge? Ordnung muss schon sein. Wir sind hier doch nicht bei den Hottentotten!«
Bei seiner Mutter waren immer die Hottentotten schuld. Seine Großmutter hatte in diesem Zusammenhang immer auf Russisch Polen verwiesen. Sein Vater dagegen sprach von wie bei Hempels unterm Sofa . Albert wusste weder, wer die Hottentotten waren noch wo Russisch Polen lag. Vielleicht waren die Hempels ja Hottentotten, die in Polen lebten, oder so ähnlich. Es war in solchen Situationen jedenfalls besser nicht nachzufragen, sondern Einsicht und Reue vorzutäuschen: »Ja, Mutti, ich mach‘ das am Wochenende. Heute komme ich nicht mehr dazu. Hotte holt mich gleich ab und bis dahin will ich noch die Schularbeiten erledigen.«
»Wie hört sich denn das an: Hotte. Er heißt doch Dieter. Du kannst deinem Freund Dieter auch mal sagen, dass er ruhig an der Wohnungstür klingeln kann und nicht immer von der Straße nach oben pfeifen soll. Dafür ist die Klingel schließlich erfunden worden.«
»Ja, Mutti, sag‘ ich ihm. Das ist eben einfach so eine Angewohnheit.«
»Na ja, er ist ja sonst ein netter Kerl, aber diese Halbstarken-Manieren sind bei uns fehl am Platze. Wir sind hier schließlich immer noch in Charlottenburg und nicht im Wedding.«
Als seine Mutter wieder aus dem Zimmer gegangen war, öffnete Albert das Fenster einen Spalt breit, um Hotte, also Dieter, beim ersten Pfeifen hören zu können. Er stellte auch das Radio etwas leiser.
Wenig später hörte er das Hupen eines Autos: kurz-lang-kurz . Das war Hottes Pfeifzeichen, aber eben gehupt und nicht gepfiffen. Warum sollte nicht auch ein Autofahrer dieses Signal benutzen? Als sich das Hupen wiederholte, schaute Berti doch aus dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein dunkelgrauer Volkswagen. Am Steuer saß Dieter. Er hatte die Seitenscheibe heruntergekurbelt und winkte Albert zu. Albert hob anerkennend den Daumen und gab ein Zeichen, dass er gleich runterkommen würde. Mann, ein Ausflug im eigenen Wagen, das hatte Stil! Zwar war der VW nicht gerade ein Cadillac, aber die Mädchen in seiner Klasse würden schon Augen machen, wenn sie so vorbeifuhren.
Als er Minuten später aus der Haustür kam, begrüßte er Dieter überschwänglich: »Wo hast du denn die Karre her, Hotte? Tolle Sache!«
»Mach den Mund zu, Keule, die Milchzähne werden sauer und steig ein! Wir haben es eilig. Der Wagen ist von Eddy, dem Verlobten meiner Schwester. Ich soll was für ihn abholen, vom Sachsendamm.«
Dieter war Alberts bester Freund. Die Verwendung des Superlativs bester ist hier eigentlich überflüssig, denn genaugenommen war Dieter sein einziger Freund. Sie kannten sich seit der gemeinsamen Zeit in der Grundschule. Dieter war ein Jahr älter und kam als Sitzenbleiber in Alberts Klasse. Die Schule war einfach nicht sein Ding. Nach dem Unterricht teilten sie sich öfter Kuchenrinde für zehn Pfennig vom Bäcker und spielten auf leergeräumten Ruinengrundstücken Fußball. Dieter hatte einen echten Lederball. Das war damals ein Schatz, der ihn in der Nachbarschaft sehr beliebt machte. Mit dem Ball verbrachte Dieter viel Zeit, lernte immer neue Tricks. Beim Dribbeln hatte Albert kaum eine Chance gegen ihn. Er spielte dann eine Weile in einer Jugendmannschaft von Tennis Borussia. Der Trainer hielt ihn für ein Talent, dem es aber noch an der notwendigen Disziplin mangelte. Da hatte er wohl Recht. Mit sechzehn wurde Dieter das Vereinstraining zu langweilig. Die ewige Kritik des Trainers nervte ihn. Außerdem hatte er angefangen zu rauchen, was seiner Kondition nicht gut bekam.
Dass er seine Fußballschuhe wenig später endgültig an den Nagel hängte, hatte auch mit Horst Buchholz zu tun. Von dem stammte auch der Spitzname Hotte . Man konnte ihm kein größeres Kompliment machen, als ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schauspieler zu attestieren. Horst Hotte Buchholz war sein Idol, seit er ihn im Film Die Halbstarken gesehen hatte. Eigentlich schon bevor der Film in die Kinos kam, denn einige Szenen des Films waren an der Tankstelle, wo er arbeitete, gedreht worden. Hotte Buchholtz spielte in den Halbstarken einen Tankwart. Drei Tage war die Filmcrew vor Ort mit den Aufnahmen beschäftigt. Im Film dauerte die Szene dann nur ein paar Minuten. Dieter hatte sich den Film vier Mal angeschaut. Leider war er selbst nicht im Bild präsent, aber die Tankstelle von Otto Ziege war deutlich zu erkennen.
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