Dieter parkte den VW direkt gegenüber vom Eingang zum Badmarkt , stieg aus dem Wagen und überquerte die Straße. Auf dem Badmarkt war immer einer von Eddys Geldwechslern unterwegs. Eddy hatte Dieter beauftragt nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Seine ambulanten Geldwechsler hatten natürlich keine amtliche Genehmigung und zahlten auch keine Steuern. Deshalb waren ihre Kurse auch günstiger als die der offiziellen Wechselstuben. Aber man musste immer vor Kontrollen auf der Hut sein. ‚Bei einem guten Geschäft machen alle ihren Schnitt‘, hatte Dieter von Eddy gelernt. ‚Du musst nur aufpassen, dass unbeteiligte Schnorrer nicht die Hand aufhalten‘. Mit den unbeteiligten Schnorrern meinte Eddy vor allem Konkurrenzbanden, Denunzianten, den Fiskus und andere staatliche Organe.
Heute tauschte Micha für Eddy auf dem Badmarkt Ost gegen West zum Tageskurs. Als er Dieter aus dem VW steigen sah, gab er ihm ein Zeichen. Dieter nickte kurz und die beiden Männer trafen sich wenig später in einer geschützten Ecke des Grundstücks.
»Hallo Micha«, sagte Dieter. »Alles OK? Wie läuft das Geschäft? Ich hab‘ Westgeld dabei, falls du noch was brauchst, aber die Ostscheine kann ich dir nicht abnehmen, weil ich was anderes zu tun habe: jede Menge Schuhe einsammeln, Auftrag vom Chef.«
»Nee, ist nicht nötig«, antwortete Micha. »Alles in Butter. Aber ich hätte da vielleicht ein paar Ausweise für dich. Sollte aber auch ein bisschen was für mich dabei herausspringen.«
»Na klar, fünf Mark Provision sind immer drin.«
»Also einen Zehner für ´ne Ostpappe fänd‘ ich schon angemessen. Du kannst zwei Stück auf einmal kriegen.«
»Sagen wir fünfzehn DM, wenn ich beide bekomme. «
»Na, OK. Siehst du das Pärchen da drüben beim Fischstand, den Mann mit der Schirmmütze und dem Koffer und die Dürre mit dem grauen Faltenrock? Die sind gerade rübergekommen, frisch von der LPG aus Dessau oder so. Die brauchen Geld. Denen läuft beim Anblick des Räucheraals schon das Wasser im Mund zusammen.«
Dieter ging rasch zu dem Paar aus Dessau, das etwas hilflos auf das überbordende Warenangebot der Marktstände schaute. Schnell wurde er mit ihnen handelseinig: fünfundzwanzig Mark für einen Ausweis, also fünfzig für beide. Hier im Westen brauchten sie die DDR-Dokumente nicht mehr. Auf der Flüchtlingsstelle in Mariendorf konnten sie sich auch mit anderen Papieren legitimieren und würden gleich einen vorläufigen West-Ausweis erhalten. Den alten Ost-Ausweis zog man dort gleich ein. Also, warum nicht noch etwas Startgeld mitnehmen?
Dieter war zufrieden. Er würde von Eddy und seinem Kompagnon, dem Spanier, einhundert D-Mark für zwei Ostausweise bekommen. Die brauchten die Ostpapiere dringend für ihr lukratives Kerngeschäft, das darin bestand, Fotoapparate in den Westen zu schmuggeln. Wenn er die fünfzig DM für das Pärchen und die fünfzehn D-Mark Provision für Micha abzog, blieben ihm fünfunddreißig Mark Reingewinn netto. Das war beinahe so viel wie er mit seinem Halbtagsjob an der Tankstelle mit Nachtzuschlag in einer Woche verdiente; und das ganz nebenbei und auf die Schnelle. So läuft ein gutes Geschäft, dachte Dieter. Jeder macht seinen Schnitt!
Albert hatte die ganze Zeit im Auto gewartet: »Ich dachte, wir sollen noch vor Ladenschluss irgendwelche Schuhe abholen.«
»Ja, ja, komm schnell. Wir gehen erst mal zu Piko.«
Das Piko - Schuhgeschäft lag wenige Häuser weiter in einem einfachen Flachbau, der eilig in einer Kriegslücke errichtet worden war. Schon von weitem sah man den Werbespruch, der die ganze Breite der Fassadenfront einnahm: Piko-Schuhe kaufen - billiger als barfuß laufen!
Sie betraten den Laden. Dieter flüsterte der Verkäuferin zu, dass sie von Eddy kämen ‚ wegen der alten Schuhe ‘. Die junge Frau gab ihnen einen Wink, mit nach hinten in den Lagerraum zu kommen. Dort standen zwei große Kartons, die bis zum Rand mit gebrauchtem Schuhwerk gefüllt waren. Es waren die Hinterlassenschaften der Kunden aus dem Osten, die ihre neuen Schuhe gleich angezogen hatten. Sie wollten keinen Ärger mit dem ostdeutschen Zoll riskieren. Ihre alten Paare ließen sie deshalb einfach im Geschäft zurück. Die Verkäuferin war offensichtlich froh, die alten Treter loszuwerden.
»Was macht ihr denn mit den ollen Latschen?«, fragte sie interessiert.
»Na ja, ist für einen guten Zweck, Rotes Kreuz und so«, antwortete Dieter; und das mit dem Roten Kreuz war nicht mal gelogen.
»Dann bis zum nächsten Mal und schöne Grüße an Eddy.«
Dieter verkniff sich ein Grinsen. Der Schöne Eddy hatte den Dreh bei den Frauen einfach raus. Sie taten ihm gerne einen Gefallen.
Albert und Dieter gingen noch zu Bären-Stiefel und Schuh Feldmann, wo sie zwei weitere Säcke mit Altware einsammelten. Damit war die Arbeit in der Badstraße erledigt. Dieter war bester Laune wegen des Geschäfts mit den Ausweisen.
»Berti, jetzt gehen wir zu Aschinger, aufn‘ Bier und `ne Bockwurst. Oder wart mal! Ich weiß was Besseres. Vorne an der Ecke gibt es Currywurst. Hast du schon mal `ne Currywurst gegessen? Schmeckt echt Spitze, schön scharf, brennt richtig auf der Zunge. Danach gehen wir noch ins Kino. Ich lad‘ dich ein!«
»Danke, Hotte! Du hast heute wohl die Spendierhosen an. Eine Currywurst wollte ich schon immer mal probieren. Sieht ja komisch aus mit dem roten Zeug drauf, aber soll Klasse schmecken.«
Wenig später standen sie an einem der Stehtische vor der Imbissbude, aßen Currywurst mit Brötchen und tranken dazu Schultheiss Bier. Dieter erzählte zwischen den Bissen von dem Film, den er unbedingt sehen wollte: »Im Neuen Alhambra spielen sie einen tollen Horrorfilm Die Rache des Ungeheuers . Das ist die Fortsetzung vom Schrecken des Amazonas . Da ist so ein Fischmensch aus der Urzeit, der sieht echt gruselig aus mit Schuppen und Flossen. Der erwürgt die halbe Expeditionstruppe, bis er sich in die junge Wissenschaftlerin verguckt mit seinen Glupschaugen. Das war natürlich ein Fehler. Zum Schluss wird er abgeknallt und verschwindet in der Tiefe. Aber anscheinend eben doch nicht ganz erschossen, denn jetzt ist er ja wieder da und rächt sich.«
Das Kino war bereits gut gefüllt, als sie den Saal betraten. Die Luft war abgestanden. Kein Wunder, denn seit elf Uhr vormittags hatte es ununterbrochen Vorstellungen gegeben. In der dritten Reihe fanden sie noch zwei zusammenhängende, freie Sitze. Als es wenig später dunkel im Saal wurde, waren fast alle Plätze besetzt. Die meisten Besucherinnen und Besucher kamen aus dem Osten. Sie zahlten nur 50 Pfennig Westgeld, die Hälfte des regulären Eintrittspreises. Das Neue Alhambra war eines der sogenannten Grenzkinos, die speziell auf Gäste aus dem sowjetischen Sektor ausgerichtet waren. Die Kinobetreiber erhielten von Senat Steuernachlässe für die verbilligten Eintrittskarten.
Albert fand den Film nur mäßig spannend, während Dieter begeistert war. Zum Schluss verschwand das Ungeheuer wieder tödlich getroffen in der Tiefe. Aber eben doch nicht ganz tot, denn im nächsten Jahr kam noch eine Fortsetzung heraus: ‚Das Ungeheuer ist unter uns‘ .
Nach dem Kinobesuch brachten sie die eingesammelten Schuhe noch zu Dieters Schwester.
»Wo habt ihr euch denn so lange rumgetrieben? Ich sitze hier wie auf Kohlen. Ich muss doch die Schuhe noch zurechtmachen. Die sollen doch morgen abgeholt werden. Jetzt müsst ihr mir gefälligst beim Sortieren und Putzen helfen, sonst sitz‘ ich hier bis morgen früh.«.
Da Monika sehr energisch werden konnte, traute sich Dieter nicht zu widersprechen. Die Jungen stellten die passenden Schuhpaare zusammen. Dann sortierte Monika die Paare in drei Kategorien. Die am besten erhaltenen Paare wurden noch schnell gesäubert und geputzt. Sie gingen an das schwedische Rote Kreuz. Die Schweden zahlten bis zu drei Mark für ein gutes Paar. Weitere brauchbare Paare gingen für ein paar Pfennige an andere Organisationen. Der Rest wanderte in den Müll.
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