Dem konnte ich nur beipflichten. Nach nur wenigen Minuten unter den Autofahrern Siziliens hatten wir unsere erste Lektion gelernt. Rote Ampeln, Geschwindigkeitsbeschränkungen und Fahrbahnmarkierungen dienten hier eindeutig nicht der Sicherheit des Straßenverkehrs, sondern fungierten als überflüssige und folglich zu ignorierende Auflockerung des Straßenbildes. Zu den ungeschriebenen Verkehrsregeln gehörte, den Kontakt zur Hupe niemals abreißen zu lassen und stets Ausschau nach einer Lücke zu halten. Tut sich eine auf, versteht es der selbstbewusste Fahrer, diese sofort und unverfroren auszufüllen. Ein probates Vorgehen übrigens, um auf einer ursprünglich zweispurigen Fahrbahn eine dritte, vierte, günstigstenfalls sogar fünfte Spur zu eröffnen.
Zu meiner großen Erleichterung stellte sich Tim als routinierter Fahrer heraus, der sich die Feinheiten der italienischen Straßenverkehrsordnung im Handumdrehen verinnerlicht hatte. Dennoch kam es einem Wunder gleich, dass wir auf Anhieb auf der Autobahn autostrada gen Taormina landeten. Zum ersten Mal an diesem Abend atmete ich befreit durch. Der Mietwagen, ein strahlend weißer Cinquecento mit Faltdach und gerade mal 2.000 Kilometern auf dem Buckel, schien ein Glückstreffer zu sein. Ganz zu schweigen von Tims unerwartetem Auftauchen! Da ich meine Neugier nicht länger zurückhalten konnte, erinnerte ich ihn an die ausstehende Antwort. „Jetzt schießen Sie endlich los. Welchen dubiosen Umständen habe ich meine Rettung zu verdanken?“
„Ganz einfach. Zum einen hatte ich mich so auf Sizilien eingeschossen, dass ich mir einfach keine Alternative vorstellen konnte. Zum anderen habe ich mich natürlich verpflichtet gefühlt, Ihnen gegebenenfalls aus der Patsche zu helfen. Tja, und das stellte mich dann vor ein kleines Zeitproblem. Die nächste Maschine wäre nämlich erst vier Stunden später gegangen. Aber, dann kam die rettende Lösung in Form einer Durchsage. Der Bucher eines privaten Charterfluges nach Catania wurde zum Informationsschalter gebeten. Sie raten sicherlich, wer sich dort ebenfalls einfand? Genau! Der Rest war dann dank meines Verhandlungsgeschicks und meiner Überzeugungskraft schnell geregelt – und ich Ihnen zwanzig Minuten später dicht auf den Fersen. Nichtsdestotrotz hatte ich arge Zweifel, rechtzeitig genug anzukommen."
Amüsiert erwiderte ich: „Sie sehen mich sprachlos angesichts so viel uneigennützigen Entgegenkommens. Da habe ich wahrlich Glück gehabt.“ „Großes Glück“, erfolgte prompt die Korrektur, „denn wenn Sie wollen, können Sie noch dazu eine Menge Geld sparen.“ „Sie sprechen in Rätseln. Aber lassen Sie es mich versuchen. Sie könnten es sich vorstellen, für die Dauer der nächsten Woche meinen ständigen Chauffeur zu spielen?“ Zaghaft kam: „Vielleicht ein kleines bisschen dreist der Vorschlag!? Es ist nur so, dass mir für einen eigenen Mietwagen das Geld fehlt. Außerdem, kreuz und quer über die ganze Insel zu fahren, wird auf die Dauer bestimmt ziemlich anstrengend. Da habe ich mir halt gedacht ...“ „Man könne sich sowohl Leihgebühren und Spritkosten teilen, als auch mit dem Fahren abwechseln“, ergänzte ich seine Überlegung. Bevor er antworten konnte, fügte ich noch hinzu: „Kaufen Sie eigentlich immer die Katze im Sack?“ „Wie meinen Sie das denn?“ „Sie wissen doch gar nichts über meine Reisepläne und den Ablauf der nächsten Woche“, erwiderte ich und servierte ihm die fehlenden Informationen. Tim nickte zustimmend. „Ein Urlaub ganz nach meinem Geschmack. Aber“, fragte er gespannt, „was ist mit Ihnen? Finden Sie die Idee völlig indiskutabel?“
Eine gute Frage. Darüber musste ich erst einmal nachdenken. Gab es weitere Argumente, die dafür sprachen? Ich wäre nicht länger auf mich allein gestellt. Eine tröstende Vorstellung, falls irgend etwas Unvorhergesehenes und Unangenehmes geschehen sollte. Zudem könnte ich von seinen hoffentlich vorhandenen Sizilianischkenntnissen profitieren. Außerdem, sieben Tage auf Zwiegespräche mit meinem Alter Ego angewiesen zu sein? Wie unterhaltsam! Und was sprach gegen die gemeinsame Fortsetzung der Reise? Eigentlich nur besagte Anhalterproblematik. Aber käme es in diesem Fall nicht einem Anfall von Verfolgungswahn gleich, meine Horrorvisionen zu kultivieren? Immerhin hätte Tim schon die eine oder andere Gelegenheit nutzen können, um seine harmlose Maske fallen zu lassen. Absurd auch die Vorstellung, er habe all den Aufwand auf sich genommen, um erst jetzt zur Bestie zu mutieren. Vielleicht war es ja bodenlos leichtsinnig, aber ich würde das Risiko eingehen!
Ihm gegenüber zeigte ich mich jedoch aus taktischen Gesichtspunkten weniger entschlussfreudig: „Nun, Sie müssen verstehen, aber Sie stellen mich vor eine schwere Entscheidung. Einerseits wäre es zwar eine Gelegenheit, mich erkenntlich zu zeigen. Andererseits – also ich weiß wirklich nicht – . So oder so hätte ich erst einmal ein paar Fragen, ...“ An dieser Stelle wurde ich schnöde unterbrochen: „Wenn Sie ein polizeiliches Führungszeugnis zu sehen wünschen, muss ich Sie leider enttäuschen. Was jedoch meine persönliche Einschätzung betrifft, kann ich Entwarnung geben. Ich halte mich für relativ harmlos. Ansonsten habe ich vergessen zu erwähnen, dass ich mich einigermaßen auf italienisch verständigen ...“
Hier wiederum fiel ich ihm ins Wort: „Auch auf sizilianisch?“ „Ich denke schon. Und was das Finanzielle betrifft, könnte ich einen Vorschuss anbieten. Ach ja, ein kleines Problem gäbe es allerdings noch. Mein Angebot der Kostenteilung beschränkt sich ausschließlich auf das Fahrzeug. Was die Übernachtungsfrage betrifft, muss ich leider auf ein eigenes Zimmer bestehen. Da bin ich etwas eigen.“ Lachend gab ich mich geschlagen. „Also gut. Sie haben gewonnen. Ich hoffe nur, dass die Hotels um diese Jahreszeit nicht ausgebucht sind“.
In ungewohnter Eintracht brausten wir in Erwartung eines feinen, typisch sizilianischen Abendmahls unserem Hotel entgegen. Es konnte sich nur noch um Minuten handeln. Laut Wegbeschreibung mussten wir lediglich die Autobahn bei der Ausfahrt Taormina Nord verlassen und dann wenige Meter auf der Nationalstraße via nationale bis zu dem Hotel Antares fahren, das zur Linken liegen sollte. Der einzige Haken an der Sache: Es gab zwar eine Ausfahrt Taormina Süd und Taormina, nicht aber Taormina Nord. Also beschlossen wir, mit dem Wagemut zweier Entdecker die nächste Ausfahrt zur Rückfahrt zu nutzen. Mit Erfolg, wenn auch die erste Gelegenheit gut 15 Minuten auf sich warten ließ. Zwecks Vermeidung weiterer Umwege ließen wir die autostrada links liegen und folgten stur der Landstraße. Und, welche Überraschung, plötzlich tauchte hoch über uns am steilen Berghang der Zufluchtsort der ersten Übernachtung auf. Was ich zunächst nicht glauben konnte, wurde durch einen Wegweiser bestätigt, der nach rechts zeigte.
„Jetzt kann nichts mehr schief gehen“, sagte ich etwa fünf Sekunden zu früh. Die Straße endete und vor uns lag eine Weggabelung. Alle drei Wege, in einem katastrophalem Zustand, schienen in etwa dieselbe Richtung zu führen. „Tja“, so der hilfreiche Kommentar meines neuen Reisegefährten, „mit meinem Orientierungssinn ist es nicht gerade weit her. Vielleicht sollten Sie die Navigation übernehmen.“ „Wie wäre es mit der goldenen Mitte?“, schlug ich vor.
Gesagt, getan. Nach einer Biegung landeten wir vor einem ungefähr zwanzig Meter langen, leicht ansteigenden Tunnel, der direkt in den Berg führte. Die vollständig aus weißen Kacheln bestehende Ausstattung und die Polstersitzgruppe, die am Ende des Durchganges schwach zu erkennen war, sprachen eindeutig gegen einen gängigen Straßentunnel. Dennoch bezweifelten wir, dass die Röhre etwas mit dem wesentlich höher gelegenen Hotel zu tun hatte. Oder sollte es sich tatsächlich um eine Art Empfangshalle handeln, mit einem unterirdischen Aufzug am anderen Ende, der uns zur gesuchten Lokalität emportragen würde? Tim bot an, nachzuschauen. Während ich hilf- und schutzlos im Auto zurückblieb? Ohne mich. Der Vorschlag gemeinsam nachzuschauen, überzeugte mich ebenso wenig. Das Gepäck im Fahrzeug zurücklassen? Viel zu riskant. „Wir könnten es ja auch mitnehmen“, unternahm er einen neuen Anlauf. Kam gar nicht in Frage! Mir fehlte jeglicher Nerv, mit dem Gepäck zu Fuß und gegebenenfalls vergeblich des Rätsels Lösung zu suchen. „Gut“, lenkte Tim ein, „dann fahren wir eben zur Weggabelung zurück.“
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