Langsam drang der um mich herum tobende Geräuschpegel – quengelnde Kinder, entnervte Eltern und nicht zuletzt die besorgte Stimme des Verursachers meines Dilemmas – in mein Bewusstsein. „Was ist denn los? Geht es Ihnen besser? Soll ich einen Arzt rufen?“ Das hätte mir gerade noch zu meinem Glück gefehlt: „Um Gottes willen! Es ist alles in Ordnung.“ Die skeptische Reaktion: „Wirklich? Sie haben mir in den letzten Minuten einen gewaltigen Schrecken eingejagt.“
Wie ärgerlich! Sein ganz und gar nicht überzeugt wirkender Gesichtsausdruck signalisierte, dass ein paar erläuternde Anmerkungen angebracht waren. Immerhin hätte er mich samt Blackout auch sitzen lassen können. Insbesondere nach meinem zuvor an den Tag gelegten Umgangston. Von meiner entgegenkommenden Art ganz zu schweigen. Bloß, was sollte ich ihm sagen? Klar, nicht zu viel und nicht zu wenig. Was ich brauchte, war eine Strategie, um mit möglichst wenig Aufwand ans Ziel zu kommen. Am besten... Doch weiter kam ich nicht dank seiner Unterbrechung.
„Also, ich muss schon sagen, es ist mir zwar aufgefallen, dass Sie nicht gerade zu den geschwätzigen Vertretern des weiblichen Geschlechts gehören, aber nun scheinen sie wohl endgültig die Sprache verloren zu haben!?“ Ich räusperte mich: „Ach, ganz so tragisch ist es sicherlich nicht. Aber von einer solchen Kreislaufattacke erhole ich mich halt immer am schnellsten, wenn ich ein paar Minuten völlig entspannt und intensiv durchatme. Wenn Sie also noch ein wenig Geduld mit mir haben könnten?“ Ohne seine Antwort abzuwarten, stürzte ich mich erneut in meinen apathisch anmutenden Zustand und entwickelte in Windeseile eine Strategie: Ich würde ihn so unauffällig und effektiv wie möglich aushorchen; im Gegenzug aber nur so viel von meiner Lebensgeschichte preisgeben wie unbedingt nötig. Wenn das kein fairer Handel war.
Kampfgestählt kehrte ich in den Zustand normaler Ansprechbarkeit zurück. Schließlich wollte ich seine Geduld keinesfalls überstrapazieren. Außerdem wurde die Zeit allmählich knapp. Ein verstohlener Blick auf die Uhr erinnerte mich daran, dass auch der großzügigste Zeitrahmen irgendwann ausgeschöpft ist. Gott sei Dank waren es höchstens noch zwanzig Minuten bis zum Flughafen. Nichtsdestotrotz, wenn ich meinen Flieger nicht hinterher schauen wollte, musste ich langsam los. Und das bedeutete, dass ich die Fahrt mit meinem neuen Bekannten fortsetzen musste, um überhaupt eine Chance zu haben, an die ersehnten Informationen zu kommen. Doch was würde er von meinem plötzlichen Sinneswandel halten? Würde er misstrauisch werden? Um das zu verhindern, galt es diplomatisch vorzugehen, anstatt ihm die gemeinsame Weiterfahrt einfach so vorzuschlagen.
„Ich muss mich wirklich bei Ihnen entschuldigen und für Ihre Ausdauer bedanken. Das Ganze ist mir richtig peinlich. Wie kann ich das wieder gut machen?“ Mensch Junge, wenn das nicht die Gelegenheit ist, deine Reisepläne wieder ins Gespräch zu bringen! Dummerweise dachte er keineswegs daran, den Köder zu schlucken. Stattdessen kehrte er den Kavalier alter Schule hervor und erwiderte: „Aber ich bitte Sie! Das war doch selbstverständlich. Hauptsache, Sie sind wieder fit. Wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann? Ansonsten würde ich mich jetzt verabschieden, denn es ist schon recht spät.“ Mist, offensichtlich war ich im Vorfeld zu unnachgiebig aufgetreten. Zweiter Versuch: „Himmel, die Zeit! Sie haben Recht. Ich habe Sie schon viel zu lange aufgehalten. Über meinen Anfall habe ich völlig die Zeit vergessen. Auch ich muss zusehen, dass ich weiter komme. Also, nochmals vielen Dank und eine schöne Reise.“
Ein letztes „Auf Wiedersehen“ und ich machte Anstalten, mich vom Stuhl zu erheben. Ungefähr nach der Hälfte der Strecke verharrte ich kurz, stöhnte leicht und ließ mich seufzend wieder zurückfallen. Offensichtlich waren meine schauspielerischen Fähigkeiten recht überzeugend. Zeitgleich mit den ersten Erschöpfungsanzeichen meinerseits sprang er auf, um mich notfalls auffangen zu können. Als ich unfallfrei wieder Platz genommen hatte, ließ auch er sich mit einem Seufzen nieder. „Sie können sagen, was Sie wollen“, verkündete er mit besorgter Stimme, „aber ganz auf dem Damm sind Sie noch nicht! Sie sollten vielleicht doch besser auf Nummer sicher gehen und einen Arzt hinzuziehen.“
Genau das richtige Stichwort! „Nun, schaden könnte es vermutlich nicht. Andererseits, es ist nicht das erste Mal, dass sich mein schwacher Kreislauf bemerkbar macht. Und aus Erfahrung weiß ich, dass ich mich in einem solchen Fall nur ein wenig auszuruhen brauche. Aber ausgerechnet jetzt ...!" Um ihm keine Gelegenheit zu geben, mich zu unterbrechen, setzte ich meinen Monolog schnell fort. „Ach, was soll’s! Ich muss mich nur ein bisschen zusammenreißen, dann wird es schon gehen. Gut, ich fühle mich etwas unsicher auf den Beinen. Aber schließlich will ich ja nicht gehen, sondern Auto fahren.“
So, jetzt war aber er an der Reihe: „Wahrlich keine einfache Situation. Dennoch würde ich mir das noch einmal gut überlegen. Oder sind Sie immer so risikofreudig? Normalerweise würde ich jetzt vorschlagen, aber – ...“ Das Verstummen nach „aber“ signalisierte endgültig seine mangelnde Bereitschaft, nach meinen Regeln zu spielen. War es eine Mischung aus vornehmer Zurückhaltung und verletzter Eitelkeit, oder hatte er mich durchschaut? Ich gab mich geschlagen: "Nun, vielleicht sollte ich die Sache tatsächlich noch einmal überdenken. Wenn die Zeit nur nicht so drängen würde. Es gäbe allerdings noch eine andere Möglichkeit. Natürlich ist mir klar, dass mein Vorschlag in ihren Ohren vermessen klingen muss. Ich gebe es nur ungerne zu, aber es könnte sein, dass ich mich zu Beginn unseres Treffens ein wenig kindisch verhalten habe. Aber man lernt ja nie aus. Kurzum, was halten Sie davon, wenn wir die Fahrt zum Flughafen gemeinsam fortsetzen? Sollte sich mein Kreislauf erneut bemerkbar machen, könnten Sie sogar das Steuer übernehmen.“
Falls ihn mein Angebot überrascht haben sollte, ließ er es sich nicht anmerken: „Meinetwegen, wenn Sie dieses unwägbare Risiko allen Ernstes eingehen wollen. Aber ich warne Sie: Ich übernehme keine Haftung für eventuelle Ausbrüche krimineller Natur.“ „Ja, ja, machen Sie sich nur lustig über mich. Vermutlich habe ich es verdient.“
Gut gemacht! Die erste Etappe hatte ich erfolgreich absolviert. Wir zahlten und eilten Richtung Ente. Am Wagen angekommen, überreichte ich ihm mit einer großzügigen Geste den Autoschlüssel. Netterweise nahm er ihn kommentarlos und stieg ein. Nach den ersten Kilometern, die wir schweigend zurücklegten, beschloss ich, den zweiten Schritt in Angriff zu nehmen: Wie brachte ich ihn dazu, rein zufällig unsere Gemeinsamkeit zu entdecken? Unauffällig zog ich die Kette unter dem Pullover hervor. Dann drehte ich mich in seine Richtung, um meine Sprechbereitschaft zu signalisieren und seinen Blick auf meine Vorderseite zu lenken. „Da wir nun schon die letzten Kilometer gemeinsam zurücklegen, sollte ich mich wohl vorstellen. Ich heiße Anna Freitag.“ „Freut mich. Tim Sommermeier.“
Sehr groß schien seine Freude allerdings nicht zu sein. Jedenfalls brachte sie ihn nicht davon ab, wie hypnotisiert geradeaus auf die Straße zu schauen. Vor lauter Nervosität begann ich an dem Anhänger herumzuspielen. „Mein Gott, warum sind Sie denn so nervös? Immer noch Angst, ich könnte jeden Augenblick ...“ Während er zu mir hinüberschaute, blieb ihm das Ende des Satzes im Halse stecken. „Das gibt’s ja gar nicht! Wo haben Sie denn die Trinakria aufgetrieben? Haben Sie nicht erwähnt, Sie führen das erste Mal nach Sizilien?“
Endlich! Es begann spannend zu werden. „Trinakria? Meinen sie den Anhänger? Was hat er mit Sizilien zu tun? Und überhaupt, warum sind Sie so überrascht?“ Ungläubig stellte Tim fest: „Sie scheinen tatsächlich nichts über die Darstellung des Anhängers zu wissen.“ „Nein, das heißt ja, also, das einzige, was ich weiß ist, dass es offensichtlich ein recht seltenes Exemplar ist, über das mir niemand nähere Informationen geben konnte. Um so erstaunter bin ich, das Sie anscheinend mit dem Teil mehr anfangen können als ich.“ "Wieso erstaunt? Ist Ihnen das nahezu identische Motiv auf meinem Seesack nicht aufgefallen. Na ja, ist ja auch egal. Wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen die Geschichte des Frauenkopfes.“
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