Was für ein Fund! Unabhängig davon, ob und gegebenenfalls welche Botschaft der Zettel enthielt, war allein die Tatsache, dass wir ihn entdeckt hatten, unglaublich. Aufgeregt deutete ich Tim an, er solle das Papier auseinanderfalten. Zum Vorschein kam ein dünnes pergamentartiges Papier, rechteckig, ungefähr zwei mal vier Zentimeter klein. Gespannt beugten wir uns darüber. Und richteten uns enttäuscht wieder auf. Nicht, dass ich große Erwartungen an unsere Entdeckung gestellt hatte, aber etwas mehr hätte es schon sein dürfen. Zumindest etwas Konkreteres als eine reine Ansammlung von Zahlen. Winzige, von einer zierlichen Handschrift zeugende Zahlen. Die noch dazu wegen der im Laufe der Jahre verblassten Tinte nur schwer zu entziffern waren.
„Was für ein Fund!“, entfuhr mir in sarkastischem Tonfall. „Das kannst du laut sagen“, entgegnete Tim ernst. Offensichtlich um einiges begeisterungsfähiger als meine Wenigkeit, ließ er sich von der Kellnerin Stift und Papier geben. Während er sich daran machte, die Zahlen zu entziffern, nahm ich die nächste Runde Vino in Angriff. Während ich über Schaden und Nutzen einer solchen Entdeckung philosophierte, beobachtete ich, wie Tims Einsatz langsam Gestalt annahm. Schließlich tauschte er den Kugelschreiber gegen das Weinglas, lehnte sich zurück und meinte: „So, das war’s. Jetzt müssen wir nur noch rausbekommen, was die Zahlen bedeuten.“
„Wenn es sonst nichts ist.“ Mit gespieltem Enthusiasmus schnappte ich mir die Kopie unseres Fundes, um einen Blick auf das Ergebnis seiner fleißigen Hände Arbeit zu werfen. Und so sah es aus:
0 0 0 0 0
9 9 9 9 9
3 3 2 2 2
1 5 2 3 1
5 8 2 2 2
7 1 6 9 1
6 4 9 7 0
0 0 3 0 5
7 1 6 1 0
Mäßig begeistert würdigte ich seine Arbeit: „Respekt! Nicht schlecht. Da haben wir wohl in der Tat den schwierigsten Teil schon hinter uns. Und was schlägst du als nächstes vor?“ Ein zurechtweisender und missbilligender Blick zugleich ging seiner Strafpredigt voraus. „Du machst mir wirklich Spaß. Was hast du denn erwartet? Die klar verständliche Anleitung für: Wie finde ich einen Goldschatz? Gut, ich gebe zu, dass es nicht einfach sein wird, hinter die Bedeutung der Zahlen zu kommen. Aber das spricht doch gerade für die Wichtigkeit der Botschaft. Wer auch immer der Verfasser dieser Zahlen ist oder war, er hat sich große Mühe mit dem Versteck gemacht. Also ist es nur folgerichtig, dass er Vorsichtsmaßnahmen für den Fall getroffen hat, dass das Papier in die falschen Hände gerät. Bevor ich jetzt endgültig zum Ende komme, würde ich also vorschlagen, dass du die Sache ein wenig ernster und deine grauen Gehirnzellen in Anspruch nimmst. Es sei denn natürlich, du hast kein Interesse an der Aufklärung.“
Und wie ich an der Lösung des Rätsels interessiert war! Zwar wagte ich nicht, auf einen Bezug zu meiner Vergangenheit zu hoffen, aber meine Neugier war in jedem Fall geweckt. “In Ordnung. Dann fangen wir am besten sofort mit der Suche nach einer plausiblen Erklärung an. Hast du schon eine Idee, Tim?“ „Hmm, vielleicht handelt es sich bei den Zahlen um eine Art Code. Du weißt schon, jede Zahl steht für einen Buchstaben und so weiter.“ „Gar nicht schlecht. Stellt sich nur die Frage, ob wir ihn knacken können. Lass mich mal überlegen – es sind zehn verschiedene Zahlen, also zehn unterschiedliche Buchstaben. Reichen zehn Buchstaben des Alphabets aus, um eine Botschaft auszutüfteln? Wohl kaum.“
Tim gab mir Recht. „Vielleicht steht die eine oder andere Zahl nicht nur für einen Buchstaben. Zum Beispiel die fünf unterstrichenen Zahlen." „Nimm es mir nicht übel, aber ich kann nur hoffen, dass du damit falsch liegst. Denn andernfalls habe ich keinen blassen Schimmer, wie wir jemals das Geheimnis lösen sollen.“ Tim zeigte sich einsichtig: „Eine andere Lösung wäre mir auch lieber. Fällt dir denn nichts ein?“ „Um ehrlich zu sein: nein. Das heißt, die Anordnung der Zahlen erinnert mich an ein – wie nennen sich die Dinger noch mal? Genau, magisches Rechenquadrat. Du weißt doch, diese Aufgaben aus Rätselheften, bei denen die Summe jeder Zeile, jeder Spalte und der Diagonalen identisch ist. Ich befürchte nur, dass diese Erkenntnis hier schon vom Ergebnis her nicht zutrifft.“ “Ja, Gott sei Dank“, revanchierte sich Tim, „andernfalls stünden wir wieder vor dem Problem, wie das Ergebnis zu deuten ist.“
So spannend die Sache auch war, allmählich wurde ich hundemüde. Auch Tim konnte ein herzhaftes Gähnen kaum unterdrücken. Kein Wunder, war es doch schon jenseits von Mitternacht. Und der hinter uns liegende Tag war schließlich alles andere als geruhsam gewesen. Weiter zu grübeln, würde im Moment nichts bringen. Ich hatte ja schon Schwierigkeiten, überhaupt noch einen klaren Gedanken zu fassen. Zeitgleich schlugen wir vor, fürs Erste Schluss zu machen, uns ein paar Stunden Schlaf zu gönnen, um am nächsten Morgen frischen Mutes einen neuen, erfolgreichen Anlauf starten zu können. Wir zahlten und brachen auf.
Schon halb schlafend, ließ ich mich ins Bett fallen. So blieb mir der oftmals herbeigesehnte Genuss versagt, die Tagesgeschehnisse, mit denen ich gestern Morgen nie gerechnet hätte, Revue passieren zu lassen. Wie sich jedoch im Verlauf der nächsten Tage herausstellen sollte, hatte ich keine einmalige Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen. Im Gegenteil. Es sollte noch der Moment kommen, dass ich mir kurz vor dem Einschlafen wünschte zu wissen, was der bevorstehende Tag für mich bereithält.
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