Und wenn es nun doch der Tunnel war, der direkt zum Ziel führte? Irgendwann wollte ich schließlich mal ankommen. „Wissen Sie was“, nahm ich die Sache in die Hand, „am einfachsten wäre es, wir durchqueren den Tunnel mit dem Auto. Geben Sie Gas! Habe keine Lust, hier zu überwintern.“ Ungefähr in der Mitte angekommen, überkamen mich arge Bedenken. Der Tunnel war in gleißendes Licht gehüllt und wurde immer enger. Außer uns war keine Menschenseele zu sehen. Mir schien die Örtlichkeit die ideale Falle des den Ort beherrschenden Mafiaclans zu sein. Nicht umsonst gilt Sizilien als Wiege der Mafia. Vermutlich wurden wir bereits mittels versteckter Videokameras beobachtet und die ferngesteuerten Eisengitter warteten nur darauf, vor und hinter unserem Auto herunter zu rasseln.
Ein verstohlener Seitenblick ergab, dass Tim scheinbar keine entsprechenden Befürchtungen hegte. Wahrscheinlich mangelte es ihm schlichtweg an Phantasie. Ich würde jedenfalls meinem Instinkt folgen, und der riet mir, schnellstens den Rückwärtsgang einzulegen. Auf die entsprechende, leicht panisch vorgebrachte Anweisung reagierte Tim zunächst mit einem irritiert wirkenden Blick. Kam aber sodann meiner Bitte nach: „Sie sind der Chef!“ Wohlbehalten kehrten wir zur Weggabelung zurück und wählten nun die linke Wegvariante. Sie führte nach einer großzügigen Linkskurve zu einer abschüssigen Straße, die zu einem Wohnbaugebiet führte, das sich noch im Rohzustand befand. In stiller Übereinkunft wechselten wir einen Blick. Wollten wir unser Hotel nicht großzügig umfahren, blieb nur noch die letzte, wie immer in solchen Fällen richtige Variante. Nunmehr trennten uns tatsächlich nur noch wenige Meter, die jedoch durch diverse Schlaglöcher und engste Haarnadelkurven erschwert wurden, vom Unterschlupf. Alles natürlich ohne jegliche Lichtquelle.
Wir schleppten das Gepäck in die Hotelhalle und hatten Glück. Die Quelle unerwünschter Hindernisse schien erschöpft, nicht hingegen die Zimmerkapazität des Hotels. Unterschiedliche Richtungen einschlagend, vereinbarten wir, uns in einer halben Stunde zwecks Nahrungsaufnahme bei der geschmackvollen Plastikpalme im Foyer zu treffen. Auf meinem Zimmer angekommen, machte ich mich über die zu meiner großen Freude vorhandene Minibar her und wurde einer Flasche original sizilianischen Bieres birra fündig. Auf dem Bett liegend, den ersten herrlich kühlen Schluck durch die ausgedörrte Kehle rinnend, fing ich allmählich an, die Tatsache, in Sizilien zu sein, so richtig zu genießen. Wer weiß, vielleicht würde die Reise um Längen besser verlaufen als erwartet. Nicht in meinen kühnsten Träumen hätte ich mir in diesem Moment vorstellen können, welche Überraschungen und Ereignisse auf mich warteten.
Nach einer kurzen Ruhepause schoben sich die Gedanken an das bevorstehende Abendmahl in den Vordergrund. Mir schwebte eine hoteleigene gemütliche Pizzeria oder Ähnliches vor. Jedenfalls zweifelte ich keinen Augenblick daran, dass das Hotel über ein entsprechendes Angebot verfügte. Denn eins stand fest. Keine zehn Pferde würden mich dazu bringen, an diesem Abend noch einen Fuß ins Auto zu setzen. Als ich kurze Zeit später den Aufzug betrat, fiel mein erster Blick auf Tim und der zweite auf ein Schild, das auf ein Restaurant ristorante im Untergeschoss hinwies. Doch schon der erste Blick hinein wurde durch die vorherrschende Wartesaalatmosphäre getrübt. Lediglich in einer Ecke des riesigen Raumes waren einige Tische eingedeckt und verkündeten von der grundsätzlichen Möglichkeit, dort zu dinieren. Außer den anwesenden deutschen Touristen des Mittelalters war keine Menschenseele zu sehen. Ein Blick zu Tim zeigte, dass dieses Umfeld auch seiner Vorstellung von italienischem Ambiente kaum entsprach.
Wie auf ein Kommando drehten wir uns um und suchten die Rezeption auf. Dort erfuhren wir zu unserem Leidwesen, dass es in puncto Nahrungsaufnahme keine Alternative gab. Also beschlossen wir, der Hotelbar, die sich größter Beliebtheit erfreute, die Ehre zu geben. Um zu ihr zu gelangen, mussten wir uns durch eine beträchtliche Anzahl gemischter Touristen jeglichen Alters kämpfen, die, beschwingt durch die melodischen Klänge einer Rentnerband inklusive Hammondorgel, das Parkett erzittern ließen. Eine Weile betrachteten wir das lustige Treiben. Nachdem sich unsere Ohren leidlich an die Geräuschkulisse gewöhnt hatten, nutzte ich die Gelegenheit, um etwas mehr von meinem Reisebegleiter zu erfahren. Bereitwillig berichtete er in Kurzform über sein Leben.
„Weißt du – nach dem zweiten Glas Rotwein vino tinto hatte ich ihm zu unser beider Überraschung die Brüderschaft angeboten – genau genommen hat meine Geschichte ihren Ursprung hier auf Sizilien. Während eines Urlaubs lernte meine Mutter in einem kleinen Bergdorf in der Nähe von Caltagirone meinen Vater kennen. Für beide die große Liebe auf den ersten Blick. Am Ende der Ferien fuhr sie wie geplant nach Passau zurück. Jedoch nur, um meine Großeltern über ihre Verlobung und baldige Hochzeit zu informieren. Zwei Wochen später befand sie sich wieder auf dem Weg nach Sizilien – die unumstößliche Absicht im Gepäck, dort ein neues Leben zu beginnen – “
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Zu Beginn lief alles bestens. Meine Eltern waren glücklich, kurze Zeit später kam ich. Einziger Wermutstropfen: die Bewohner sahen in ihr einen unwillkommenen Eindringling. Ein Umstand, von dem meine Mutter hoffte, er würde sich mit der Zeit legen. Doch da täuschte sie sich. Die Einheimischen, eine verschworene, misstrauische und zurückhaltende Gemeinschaft, legten ihr gegenüber ohne Unterlass ein feindliches, nahezu aggressives Verhalten an den Tag. An eine Eingliederung in die dörfliche Gemeinschaft war nicht zu denken. Natürlich blieb die Beziehung zu meinem Vater davon nicht verschont. Denn nun war auch er als Außenseiter gebrandmarkt. Meine Mutter fühlte sich wie in Isolationshaft. Hinzu kamen der ungewohnt niedrige Lebensstandard, die extremen klimatischen Bedingungen und die in den langen Sommermonaten karg und schroff anmutende, ausgedörrte Landschaft. All das körperlich zu verkraften, fiel ihr von Jahr zu Jahr schwerer. Nach fünf Jahren gestand sie sich ein, für dieses Leben nicht geschaffen zu sein. Die Trennung erfolgte im Streit. Ich war vier Jahre alt, als ich mit meiner Mutter nach Passau zurückkehrte. Damals habe ich meinen Vater das letzte Mal gesehen. Seit dieser Zeit herrschte absolute Funkstille. Vor einem halben Jahr haben wir von seinem Tod erfahren.“
„Das tut mir wirklich sehr leid. Und in all den Jahren haben weder du noch deine Mutter einen Schritt auf diese Insel gesetzt?“ „Ja. Leider. Als Jugendlicher habe ich eine Weile versucht, sie zu einem Urlaub zu überreden, aber sie hat sich strikt geweigert. Und ohne sie fahren, das wollte ich nicht. Doch jetzt, da mein Vater tot ist, hatte ich den unbestimmten Drang, das Versäumte endlich nachzuholen.“ „Nun, ich glaube, ich kann deine Mutter verstehen. Aber du scheinst dich wirklich sachkundig gemacht zu haben.“ „Wie meinst du das?“, hakte Tim nach. „Na ja, zum Beispiel dein Wissen über die Trinakria.“ „Das stimmt nicht ganz“, erwiderte Tim. „Weißt du, dieses Symbol ist quasi das einzige Übrigbleibsel aus der sizilianischen Vergangenheit meiner Mutter. Dafür hegt und pflegt sie es um so mehr. Es ist in ihrem Haus überall und in jeder Form vertreten. Auf Wände und Decken gemalt, als Wandschmuck aus Ton gearbeitet, als Motiv auf Vasen und Blumentöpfen et cetera. Da die Trinakria auch für dich eine Bedeutung zu haben scheint, müsstest du dir das Haus eigentlich mal anschauen!“
Ich hatte es befürchtet. Ein geschickter Wink mit dem Zaunpfahl, dass nun ich an der Reihe sei, ein wenig aus der Schule zu plaudern! Doch darauf würde er lange warten können. Also ignorierte ich die unausgesprochene Aufforderung einfach. Ob er sich dessen bewusst war; oder mit Blick auf meine Reaktion auf der Fahrt nach München nicht nachhakte? Jedenfalls beantwortete er brav meine zwecks Ablenkung gestellten Fragen. So erfuhr ich unter anderem auch etwas über seinen beruflichen Werdegang. Nach einer Tischlerlehre hatte er sich auf die Restaurierung alter Möbel spezialisiert und sich vor Kurzem selbständig gemacht. Die Werkstatt, die im Hause seiner Mutter eingerichtet hatte, lief jedoch zur Zeit mehr recht als schlecht.
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