„Als erstes muss ich mich voll darauf konzentrieren, die Antworten auf diese Flut von Fragen nicht durcheinanderzubringen. Erstens: Weiß ich nicht. Zweitens: Weiß ich noch nicht genau. Drittens: Wenn ich das wüsste." „Ach“, sagte ich aufgeschlossen, „das ist ja interessant. Und das heißt?“ „Nun, ich schwanke hin und her. Letztlich bleiben zwei Alternativen. Entweder ich gebe meine Urlaubspläne vollständig auf. Oder ich freunde mich langsam mit dem Gedanken an eine Flugreise an.“
Als habe mich seine Ankündigung wie aus heiterem Himmel und völlig unerwartet erreicht, erwiderte ich gelassen: „Irgendein Flug, oder wollen Sie etwa nach Sizilien fliegen?“ „Hätten Sie was dagegen? Ich glaube, es besteht kein Anlass zur Sorge. Es ist kaum damit zu rechnen, dass sich in Ihrer Maschine noch einen Plätzchen findet.“ „Ach, seien Sie nicht so pessimistisch. Beeilen wir uns, man kann nie wissen“, zeigte ich mich von einer gänzlich unbekannten Seite, die auch ihn zu irritieren schien. Jedenfalls war die Reihe nun an ihm, mich mit einem skeptischen Blick zu beehren. Vielleicht lag es ja an den extrem dunklen und unverschämt langen Wimpern, aber an diesen Blick konnte ich mich gewöhnen.
Tja, das sah ganz nach dem Ende meiner Glücksphase aus. Ungefähr zwei Stunden später hatte ich meinen Platz in der Maschine eingenommen. Nicht nur, dass mir der erhoffte Platz am Fenster versagt geblieben war. Auch die Nachbarn zur Rechten und Linken entsprachen nicht unbedingt meiner Vorstellung. Auf dem Fensterplatz wälzte sich ein Zweizentnerkoloss in die richtige Sitzposition. Dabei ächzte und stöhnte er ohne Unterlass und ignorierte rücksichtslos die Tatsache, dass er meinen Bewegungsraum beträchtlich einschränkte. Na ja, wenigstens ließ sich dieses Manko zur anderen Seite hin ein wenig ausgleichen. Dort hatte sich ein Jüngling der Marke „Dünner Hering“ breit, besser gesagt schmal gemacht. Ein Vorteil, der von einer im Laufe der Zeit unerträglich werdenden Knoblauchwolke schnellstens eliminiert wurde. Während ich mich skeptisch einer bröseltrockenen, mit angegrauter Salami und einem glibberigen Salatblatt spärlich belegten Semmel widmete, sinnierte ich über die Vorteile eines Tim Sommermeier.
Leider hatte er mit seiner Befürchtung, platzlos auszugehen, Recht behalten. Einen erfolgversprechenden Ersatzplan hatte er, als mir uns nunmehr endgültig verabschieden mussten, leider nicht parat. Ein Schauder ergriff mich, als ich mir die Überlebenschancen nach meiner Ankunft in Catania ausrechnete. Welch ein unschätzbares Glück, dass die erste Übernachtung in Catania sein würde. So blieb mir wenigstens eine nervenaufreibende Autofahrt direkt am ersten Abend erspart.
Um mich abzulenken, führte ich einen stummen Monolog: „Jetzt reiß dich gefälligst zusammen. Heute morgen stand es schließlich außer Frage, dass du einsam und alleine in dem Flieger sitzen würdest. Also, no risk, no fun! Wir schaffen das schon, yes!“ Dummerweise hatte sich das letzte Wort leise murmelnd verselbstständigt. Für Herrn Hering ein willkommener Anlass, den Versuch einer Konversation zu wagen. „Haben Sie etwas gesagt?“ Normalerweise hätte ich mir ein paar freundliche und unverfängliche Worte abgerungen. Doch die Knoblauchfahne, die mir ohne Vorwarnung mitten ins Gesicht wehte, bestärkte mich in dem Entschluss: Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Zaghaft holte ich Luft und antwortete resolut: „Nicht dass ich wüsste!“ Sein erneuter, zaghafter Versuch „Ich dachte, ich hätte etwas gehört!?“ gab mir den Rest: „Sie müssen sich geirrt haben.“ Dann gab ich vor, ein kleines Nickerchen zu machen, während ich den Anflug eines schlechten Gewissen zu unterdrücken versuchte.
Dank des starken Rückenwindes, so die Info des Kapitäns, brauchten wir für die Flugstrecke statt der angekündigten eineinhalb Stunden nur 75 Minuten. Nun gab es kein Zurück mehr: Ich hatte sizilianischen Boden unter den Füßen! Es war kurz vor 19 Uhr. Wenn alles gut ginge, würde mich vielleicht schon in einer Stunde die Geborgenheit meines Hotelzimmers umgeben.
Ich schaute mich auf dem Flugplatz um. Die Landschaft ringsherum sah ziemlich eintönig, nahezu karg und vertrocknet aus. Vermutlich das Ergebnis eines erbarmungslosen Hochsommers. Dennoch eine Wohltat: Keine Nebelschwaden weit und breit. Gut, es herrschte kein strahlender Sonnenschein, was ich dem zu Ende gehenden Tag anlastete. Aber immerhin umwehte mich ein lauwarmes Lüftchen, das mich daran erinnerte, good old Germany zweifellos hinter mir gelassen zu haben. Erst jetzt wurde mir so richtig bewusst, dass ich mich im Urlaub befand, der sich hoffentlich als rundum gelungene Reise entpuppen würde. "Aber just hier wirst du wohl keine Wurzeln schlagen wollen", ermahnte ich mich. Also nichts wie hin zur Gepäckabfertigung. Ohne Probleme fand ich mein Reisegepäck. Das klappte ja wie am Schnürchen! Sollte ich mich mal wieder umsonst aufgeregt haben?
Dann machte ich mich auf die Suche nach meiner Reiseleitung. In meiner offensichtlichen Naivität hatte ich damit gerechnet, von einer freundlichen Dame oder einem netten jungen Herrn in Empfang genommen und nach Aushändigung der Reiseunterlagen zu meinem Mietwagen geführt zu werden. Indes machte ich die Bekanntschaft eines weiblichen Wesens, dessen Aufmachung – lange zottelige, schwarz gefärbte Haare, ehemals lila lackierte Fingernägel, zu erkennen an den noch nicht abgeblätterten Farbtupfern, ähnlich sorgfältig umrandete Augen und Mund, schwarz gewandet, ansonsten bleich wie der Tod und nur unwesentlich attraktiver – den Verdacht weckte, ich könnte auf der falschen Veranstaltung gelandet sein. Womöglich hatte das Reisebüro ja irrtümlich statt der sonnigen Seite Siziliens einen Trip durch die Subkultur dieser Insel inklusive Besuch einer Megafete der hiesigen Grungevereinigung gebucht.
Die überreichten Unterlagen wiegten mich für einen trügerischen Augenblick in Sicherheit. Prinzipiell hielt ich die tatsächlich gebuchte Reise in Händen. Allerdings mit Ausnahme einer geringfügigen Abweichung vom angekündigten Reiseverlauf: Für die erste Übernachtung war nicht, wie im Reiseprospekt angegeben, Catania vorgesehen, sondern Taormina. Ein nettes kleines Badeörtchen, nur circa 50 Minuten von Catania entfernt.
Energisch unterdrückte ich die ersten Anzeichen einer Krise. Ebenso vehement teilte ich der Empfangsdame mit, dass diese Änderung keinesfalls akzeptabel sei. Schließlich würde es bald stockduster sein; ich befände mich nach einem anstrengenden Tag in einem fremden Land und verspürte infolge nicht den geringsten Nerv, unmittelbar in unbekannte Fernen aufzubrechen. Es folgte eine aussagekräftige Reaktion in Form eines gelangweilten Schulterzuckens, begleitet von der Information: "Catania ist vollständig ausgebucht. Aber Sie können sich ja beim Reiseveranstalter beschweren.“ Dann gab sie noch zu bedenken, dass die Planänderung durchaus dem Charakter der gebuchten Reise „Sizilien für Entdecker“ entspräche. Daher sei die Frage, wo und wie diese Entdeckungstour beginne, wohl kaum relevant. Mit dem Tipp, mich zwecks Erhaltes des Mietwagens an den zuständigen Herrn hinter dem Schalter „Sissili by car“ in der Abflughalle zu wenden, verabschiedete sie sich eilig und entschwand.
Ihren Rat getreulich befolgend, schleppte ich – ein Gepäckwagen war weit und breit nicht zu sehen – mein Gepäck aus der Ankunftshalle hinaus, durch die auf dem Bürgersteig befindliche Ansammlung krakeelender Sizilianer hindurch, in die 50 Meter weiter gelegene Abflughalle hinein. Währenddessen murmelte ich unablässig "Sissili, Sissili, Sissili ..." vor mich hin. Diesen seltsam klingenden Namen durfte ich auf keinen Fall vergessen; dieses Zauberwort würde mich vor dem totalen Chaos bewahren!
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