„Am Wort von Sonnenhaar ist nicht zu zweifeln“, pflichtete nun auch ein anderer bei.
Die neun Turikos saßen im Kreis. Die Ehrenwachen konzentrierten sich auf Gefahren, die von außen drohen mochten, und achteten kaum auf die Vorgänge innerhalb der Runde. Bimar-Turik hatte sich erboten, für das Wohl der Ratsmitglieder zu sorgen, da seine Sinne durch das Alter nicht mehr so scharf seien. So ging er hinter den Rücken der Turikos umher und füllte ihre Becher immer wieder mit Wasser oder dem gegorenen Stachelpflanzensaft.
„Dann hat er sich täuschen lassen“, stieß der Turiko der Fleckbeißer wütend hervor. „Was Sonnenhaar sagt, das stinkt nach einem Hinterhalt der Pferdereiter.“
„Der Pferdereiter Nedeam gab mir sein Wort und ihr kennt seinen Namen aus unseren Liedern. Ich vertraue ihm.“
„Du stinkst schon selbst nach Pferd“, zischte der Anführer der Fleckbeißer.
Es gab einen dumpfen Schlag, der vom Knacken brechender Knochen begleitet wurde. Während der Turiko leblos nach vorne sackte, sprangen die anderen entsetzt auf. Ihre Ehrenwachen zogen die Schädelkeulen und sprangen herbei.
„Das Gesetz wurde gebrochen!“, schrie einer erregt und andere stimmten zu. „Der Turik des Nagerclans hat die Unverletzlichkeit des Rates missachtet!“
Zwei der anderen Krieger, zu denen auch die Ehrenwache des Toten gehörte, machten Anstalten, sich auf Bimar-Turik zu stürzen. Der narbige alte Krieger grinste und zeigte dabei einen fast zahnlosen Mund. „Wollt ihr es wirklich versuchen? Nur zu, eure Schädel fehlen mir noch in meiner Sammlung.“
Heldar-Turiko hatte sich ebenfalls erhoben. „Halt! Kein Blut wird fließen. Kein Schädel wird genommen.“
„Es ist bereits Blut geflossen“, hielt ein wütender Turiko dagegen.
„Wartet und achtet das Gesetz“, meldete sich einer zu Wort. „Denn es wurde zweimal gebrochen. Einmal, als Bimar-Turik seine Keule erhob, doch zuvor durch den Turiko der Fleckbeißer, denn er beleidigte einen der unseren auf schändliche Art.“
„Das ist wahr“, räumte der Turiko der Sandwühler ein. „Er bezichtigte Sonnenhaar, nach Pferd zu stinken. Das ist eine sehr ernste Beleidigung.“
„Die mit Blut zu begleichen ist“, bekräftigte Bimar-Turik mit kalter Stimme. „Ich habe das erledigt, damit Sonnenhaar sich nicht an dem Fleckbeißer beschmutzen musste. Vielleicht war ich ein wenig vorschnell, doch die Beleidigung brachte mein Blut in Wallung und meinen Arm zum Schlag.“ Er deutete mit der blutigen Keule auf die Leiche. „Daher schlug ich auch ein wenig fester zu. Der Schädel ist wohl ruiniert und taugt nicht einmal als Zierde für ein Schädelhaus.“
Der Turiko der Sandwühler machte eine beschwichtigende Geste zu den Kriegern. „Er hatte ohnehin keinen vernünftigen Gedanken darin. Senkt die Keulen und setzt euch wieder. Hier geht es um die Belange der Clans und ihre Zukunft.“ Er deutete auf die Ehrenwache der Fleckbeißer. „Du siehst stark und klug aus. Klüger als der alte Turiko deines Clans. Du scheinst mir geeignet, seine Stellung einzunehmen.“
Der Krieger runzelte die Stirn und folgte zögernd der Einladung, in der Runde Platz zu nehmen. Zwei andere Turiks schleiften den Toten rasch zur Seite und warfen Sand über das frische Blut. „Der Clan der Fleckbeißer muss seinen Turiko erwählen.“
„Nun, wenn ich dich so sehe, wird er wohl eine gute Wahl treffen.“ Der Sprecher zuckte mit den Schultern. „Der alte Turiko hat dich doch sicher als Begleiter ausgewählt, weil du der Fähigste seiner Kämpfer bist, nicht wahr? Ah, du nickst. Dann wirst du auch Sorge tragen können, dass du der neue Turiko bist.“ Er klatschte in die Hände und sah Heldar-Turiko auffordernd an. „Und jetzt sollten wir endlich wieder zum Grund unserer Versammlung kommen. Es geht auf den Mittag und ich schätze dessen Sonne nicht.“
Heldar erläuterte den Plan, den die Versammlung in Enderonas gefasst hatte.
„Wir sollen mit den Zwergen zusammenarbeiten?“ Der Turiko der Sandwühler wiegte nachdenklich den Kopf. „Ich mag diese kleinen Kerle nicht. Sie sind schwer zu treffen und widerlich gute Axtschläger.“
„Sie mögen uns und unsere Schädelkeulen und Blasrohre ebenso wenig“, versicherte Heldar. „Doch wir müssen einander nicht mögen, um zusammenarbeiten zu können.“
„Das ist wahr. Aber es wird Spannungen zwischen ihnen und uns geben. Wir können ihnen nicht trauen.“
„Sie werden uns auch nicht vertrauen.“ Sonnenhaar sah die anderen eindringlich an. „Aber das müssen wir, wenn unsere Völker überleben sollen.“
„In eine neue Heimat? Gemeinsam mit den Pferdereitern und den Zwergen?“ Einer der Männer spuckte aus. „Das gefällt mir nicht.“
„Sie bauen die Schiffe und wir besorgen ihnen das Holz.“ Heldar grinste. „Es mag uns nicht gefallen, doch es sichert unseren Clans das Leben.“
„Warum sollen wir das Holz schlagen? Sollen sie es doch in ihrem Land tun. Das ist auch viel näher.“
Heldar blickte den Fragesteller an und nickte. „Du hast recht. Doch da wir mit einem Angriff des Schwarzen Lords rechnen müssen, wird alles von außen nach innen geschafft. Von den fernen Ländern zum Zentrum, wo die Schiffe entstehen.“
„Ich verstehe.“ Einer der anderen zog seinen Dolch aus dem Gürtel, zog einen Kreis in den Sand und stieß die Klinge in dessen Mitte. „Der Feind wird uns von außen bedrängen und der Schwarze Lord ist überaus mächtig. Er wird uns zurückwerfen, daran habe ich keinen Zweifel. Gleichgültig, wie tapfer wir auch kämpfen mögen. Seine Orks sind zahlreich wie die Körner des Sandes. Hat er uns von der äußeren Grenze verdrängt, so können wir die innere noch halten und haben dort genug Holz und andere Mittel, um alles vollenden zu können.“
„So ist der Plan.“
Ein anderer fluchte leise. „Sollen wir etwa die ganzen Baumstämme bis nach Alnoa schleppen?“
„Nein. Wir fällen sie gemeinsam mit den Zwergen. Fuhrwerke des Pferdevolkes und der Zwerge werden sie abholen und zu den Furten des Eisen transportieren. Von dort lässt man sie den Fluss Ronin hinunterschwimmen. Er mündet bei Mintris in den Fluss Genda.“
„Das ganze Holz wird den Fluss verstopfen.“
„Einer vom Pferdevolk erklärte mir, man werde immer ein paar Stämme zusammenbinden, sodass Männer auf ihnen stehen können. Die sorgen dafür, dass es keine Verstopfung gibt.“
„Wir werden Äxte brauchen, um all das Holz zu schlagen.“
Heldar-Turiko seufzte. „Die Herren Axtschläger der Zwerge sind uns sicher behilflich.“
„Ich mag diese kleinen Burschen nicht.“
„Das erwähntest du bereits und du kennst meine Antwort.“
Der neue Turiko der Fleckbeißer räusperte sich. „Wie wird sie sein?“
„Wie wird was sein?“ Heldar warf dem Mann einen irritierten Blick zu.
„Die neue Heimat. Werden wir dort neue Sanddünen finden?“
„Sand findet sich überall. Und wo Sand ist, da findet sich auch eine neue Heimat.“
Der Genda verband die Königsstadt Alneris mit dem offenen Meer. Der träge wirkende Fluss verbreiterte sich rasch auf eine durchschnittliche Breite von zwanzig Tausendlängen und mündete nach rund 450 Tausendlängen bei der Bucht von Gendaneris und der gleichnamigen Hafenstadt in das Südmeer. Eigentlich war es kein wirklicher Flusslauf, denn ursprünglich war es ein tiefer Einschnitt in den Kontinent gewesen und das Wasser des Südmeeres bestimmte Ebbe und Flut. Erst als der Kratersee von Alneris entstand und der Felsrutsch eine Verbindung schuf, begann das Süßwasser der Kraterquelle zu dominieren.
Der Genda war auf seiner gesamten Länge schiffbar. Allerdings gab es gefährliche Stellen, an denen Untiefen drohten und sich die Fahrrinne verengte. Die Untiefe von Debun galt als besonders tückisch. Hier herrschte eine sehr starke Strömung, die Schlamm und Schmutz aufwirbelte, sodass das sonst so klare Wasser immer getrübt wurde. Ein Stück unterhalb Debuns lagen die Wracks zweier Korsarenschiffe, die hier seit vielen Jahren verrotteten.
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