1 ...6 7 8 10 11 12 ...36 „Na, na“, mahnte Vater um Mäßigung.
„Aber waschen hätten sie sich doch wenigstens vor dem Lenzfest mal können“, schimpfte Mutter, während Vater der lieben Ruhe, teils aber auch der eindeutig nicht gerade wohlriechenden Wahrheit willen, schließlich seinen Beifall nickte.
Ja, was Unrat, Sauberkeit und Geruch betraf, war mit Mutter nicht zu spaßen, wie Khor aus eigener Erfahrung wusste. Sie stammte aus dem Dorf am Mittelberg und natürlich fühlte sie sich schon allein deswegen den in aller Einsamkeit lebenden wilden Gestalten überlegen. Da sie aber zudem aus einer der ältesten und angesehensten Familien des Dorfes kam, konnte diese ansonsten so herzensgute Frau bei entsprechender Gelegenheit zu einem geradewegs abschreckenden Beispiel an Überheblichkeit werden. Khor hatte sie vor einigen Jahren sogar einmal den Vater beschimpfen hören: Wie sie sich nur habe dazu herablassen können, den Sohn eines Köhlers zu heiraten. Vater hatte damals das Haus verlassen, ohne sich zu verabschieden. Es waren lange Tage des Bangens gewesen, bis er wiederkam und zu guter Letzt wieder alle Streitigkeiten ausgeräumt waren. Khor hatte zwar keine weitere Aussprache mehr mit anhören können, aber am Verhalten der Eltern spürte er nur allzu deutlich, wie es um die Stimmung zwischen den beiden bestellt war. Und als er dann eines Abends aus den Augenwinkeln sah, wie Vater verstohlen Mutters Hand küsste und anschließend vortäuschte, sie tüchtig aufs Hinterteil zu klatschen und Mutter ihm im Spaß mit dem Besen drohte, wusste er, dass nun wieder glücklichere Zeiten anbrechen würden. Ja, nichts hasste Mutter so sehr, als auf ihr Hinterteil gepatscht zu werden. „Bin ich ein Stück Vieh, das man sich gefügig machen will?!“, protestierte sie jedes Mal. Und eine der wenigen richtigen Ohrfeigen hatte sich Khor vor einigen Jahren von ihr eingefangen, als er meinte, sich diese Freiheit herausnehmen zu können. Es wurde kein einziges Wort jemals mehr darüber gesprochen. Zum einen, weil man ehedem nicht viel sprach – jedes Wort muss wiegen, denn jedes hat Gewicht – und zum anderen, weil beide Parteien damals einen stillschweigenden, immerwährenden Vertrag miteinander geschlossen hatten: „Patsche nie auf Mutters Hintern!“
„Aber sicher“, rissen Vaters Worte Khor aus seinen Gedanken, „schließt Euch nur an“. Ohne, dass Khor sie richtig wahrgenommen hatte, war einer der Bauern mit seiner Familie zu ihnen gestoßen, die irgendwo in den unendlichen Wäldern lebten, wo sie ein Stück Land gerodet hatten, um es zu bestellen. Auch sie zogen eine, wenn auch sehr viel kleinere Karre hinter sich her. Zwiebeln konnte Khor unter der Abdeckung erkennen und Säcke mit getrockneten Pilzen. Und roch es nicht auch nach geräucherten Würsten?
Schnell wurde die Köhlerfamilie zu den Anführern einer fast schon stattlichen Karawane, der sich im Laufe des Nachmittags noch weitere Reisende angeschlossen hatten. Wussten doch alle, dass eine größere Gruppe auf Reisen auch einen weitaus besseren Schutz bot. Denn dass in diesen Tagen zahlreiche Menschen auf dem Weg zum Mittelberg waren, oft sogar mit reicher Fracht, wussten auch die Herumtreiber, die Ausgestoßenen und Schurken, die nur auf eine möglichst gefahrlose Gelegenheit warteten, um sich an anderer Leute Arbeit bereichern zu können. Allerdings dürfte die Möglichkeit, sich solcherart die Wanderung mit Gesprächen und Neuigkeiten zu verkürzen, vor allem der Grund gewesen sein, warum man sich gerne anderen anschloss.
Kaum war die Dämmerung hereingebrochen, sah Khor in der Ferne bereits den aus mindestens einem Dutzend Hausdächern aufsteigenden Rauch des Dorfes, der die Hänge des Mittelbergs emporkroch. Dazu gesellten sich die ungezählten Feuerstellen der bereits angereisten Marktbesucher. Mit zunehmender Dunkelheit sah man immer häufiger Kienspäne oder Fackeln aufflammen, die den Wanderern zusätzlich den Weg wiesen. Längst hatte man auch im Dorf ihr Kommen bemerkt. Und selbstverständlich waren es die Kinder, die ihnen, wie allen Neuankömmlingen, als Erste lauthals rufend entgegengekommen waren und nun gaffend am Wegesrand standen. Gleich an der ersten, ein wenig abseits stehenden Hütte des Dorfes steuerte Vater die Karre aus der Bahn, während der nun führerlos gewordene übrige Zug, schweigend den letzten Rest seines Wegs fortsetzte.
Hier lebte der Schmied, dessen Werkstatt man wegen der von ihr ausgehenden Brandgefahr wie üblich nicht im Dorfkern duldete und der sich noch eifrig an der Glut seines Schmiedefeuers zu schaffen machte. Kaum war er der in der Dämmerung auf ihn zurumpelnden Karre gewahr geworden, als er schon den Hammer beiseite legte und mit ausgebreiteten Armen auf die Neuankömmlinge zuging.
„Ihr seid schon da?!“, rief er freudig. „Ich habe euch morgen oder übermorgen erst erwartet. Aber gut, dass ihr schon kommt, denn ich befürchtete bereits, dass meine Holzkohle bis dahin gar nicht mehr reichen könnte.“ Und unerwartet zärtlich schloss der verschwitzte Riese zunächst Mutter, dann Vater und schließlich ein jedes der Kinder in seine Arme. „Meine Base muss wohl auf gutem Fuß mit den Waldgeistern stehen“, meinte er stolz auf Mutter blickend, „denn Jahr um Jahr wird sie schöner. Und eure Kinder erst! Eines wohlgeratener als das andere.“ Selbst Perachta, die sich ansonsten eher zurückhaltend gegenüber Fremden verhielt, ließ sich bereitwillig von dem beeindruckend großen Mann mit den mächtigen Oberarmen herzen. Und dies sogar ohne wegen seines rußgeschwärzten Gesichts zu protestieren. „Dann kommt erst einmal herein und nehmt eine kleine Erfrischung zu euch, bevor ihr euch wieder auf den Weg macht. Und das Geschäftliche können wir auch gleich klären.“ Während die beiden Männer ihren Handel besprachen, lachten und scherzten fünfzehn aufgeregte Kinder sowie zwei nicht minder erhitzte Frauen, die gar nicht recht wussten, wo sie mit ihren Erzählungen anfangen sollten. Die Hütte des Schmieds brummte wie ein aufgebrachter Bienenstock.
„Nein, die eingetauschten Dinge nehme ich erst auf dem Rückweg mit“, entschied Vater als man sich über den Gegenwert seiner Holzkohle geeinigt hatte. „Ich brauche die Sachen alle selbst und will sie nicht weitervertauschen.“
Und da beide Seiten der Ansicht waren, ein gutes und ehrenhaftes Geschäft unter Verwandten getätigt zu haben, wurde dessen Abschluss mit einem Becher Met gefeiert, während die Kinder an ihrem wohltuend heißen und großzügig mit Honig gesüßten Waldminzetee nippten. Khor liebte solche Treffen mit Verwandten. Was hatte man sich nicht alles zu erzählen?! Der Klatsch der letzten Monate kam ebenso zur Sprache wie die Bastelanleitung für ein neues Spielzeug. Freilich drehten sich die Erzählungen der Kinder um ganz andere Dinge, als jene der Erwachsenen. Wobei diese allerdings darauf bestanden, das der Gesprächsstoff der Männer grundsätzlich ein gänzlich anderer sei, als jener der Frauen. Indes war Khor immer der Meinung gewesen, wenn er denn einmal die Gespräche miteinander vergleichen konnte, dass sie tatsächlich alle mehr oder weniger doch von denselben Dingen handelten, nur eben, dass sie mit anderen Worten und selbstverständlich ganz anderen Schwerpunkten vorgetragen wurden.
Er konnte regelrecht Vaters Bedauern in der Stimme hören, als der zum Aufbruch mahnte. Die Großeltern wussten sicher schon längst, dass sie bereits im Dorf waren und eine weitere Herauszögerung ihres Eintreffens wäre wenig ehrerbietig gegenüber den alten Leuten gewesen. Also brach man widerstrebend auf, nicht ohne einander zu versprechen, die Unterhaltung an einem der kommenden Tage fortzuführen und zu vertiefen.
Wie leicht der Karren sich nun ziehen ließ - obgleich es stramm bergauf ging. Vater hatte bestimmt die Hälfte der Kohle beim Schmied gelassen und nichts weiter aufgeladen. Also nutzte Njörd die Gelegenheit und hechtete in einem günstigen Augenblick auf den Wagen, wo er mit hochrotem Kopf und schwer atmend auf dem Rücken liegen blieb. Unbemerkt hatte er von Tante Nartis Met stibitzt. Und da es ihm so leicht gefallen war, hatte er es gleich mehrfach wiederholt. Bis ihn seine Schwester Ertha auf frischer Tat dabei ertappt hatte und er sie nur mit Mühe und Not davon abhalten konnte, lautstark auf den Frevel hinzuweisen. Erthas erster Versuch, das Vergehen des Bruders ruchbar zu machen, wurde nämlich von Mutter, die überhaupt nichts von dem Geplärr ihrer Tochter verstanden hatte, noch halbwegs freundlich beendet ‑ „Nun schrei doch nicht so, Kind!“ ‑, während der zweite eine flinke Kopfnuss zur Folge hatte. „Du sollst doch nicht immer dazwischenquatschen!“ Mutters ungeteilte Aufmerksamkeit galt nur Tante Nartis Erzählungen. Also entschloss sich Ertha, ihr kleines Geheimnis für sich zu behalten. Irgendwann würde sie es schon noch gewinnbringend eintauschen können, überlegte sie und sprang kurzerhand ebenfalls auf den Wagen. „Du bist ein ganz schlimmer Bub, Njörd“, dozierte sie. „Wer weiß, wo du eines Tages noch enden wirst“, setzte sie altklug hinzu und ordnete voller Hingabe die Falten ihres Mantels, während Njörd mit rotem Kopf bereits tief schlummerte. Vater hatte die beiden blinden Passagiere längst bemerkt, ließ sie aber gewähren, da sie ja den ganzen langen Tag über so tapfer gelaufen waren. Seine Fricka, das wusste er, würde dies aus Gründen der Gleichheit unter den Geschwistern keinesfalls dulden. Sie gab sich wirklich redlich Mühe, keines der Kinder zu bevorzugen.
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