1 ...7 8 9 11 12 13 ...36 Mutter hatte von alledem nichts bemerkt, war sie doch viel zu sehr damit beschäftigt, bekannte Gesichter zu entdecken, als sie durch das Lager der zum Lenzfest angereisten Menschen zogen, das sich bereits in einem Halbkreis um das an den Hängen des Mittelbergs liegenden Dorfes gebildet hatte. Man merkte der Dorfstraße an, dass viele Menschen und Wagen sie in den letzten Tagen benutzt hatten, so aufgeweicht und durchfurcht wie sie war. Vater fluchte sogar markerschütternd, als er an einer der größeren Pfützen ausrutschte und hinzufallen drohte.
„Die Kinder sind da!“, rettete Großmutters Rufen die gute Laune, die gerade umzukippen drohte. „Die Kinder sind endlich da!“
Klein und rund stand sie in der Tür ihres Hauses und ruderte mit den Armen wie eine ertrinkende Ente. Kaum dass sie ihren Satz zu Ende gebracht hatte, trat Großvater heraus, gefolgt von seinem ältesten Sohn und dessen sechsköpfiger Familie sowie sämtlichen Knechten und Mägden des Haushalts.
Bis spät in die Nacht tönte an diesem Abend munteres Schwatzen und Lachen aus dem Langhaus der Großeltern, das eines der größten im Ort war. Das an allen Ecken und Kanten abgerundete Reetdach, dessen Form an einen auf zwei Reihen von je sechs Stangen aufgespießten, ungebackenen riesigen Brotfladen erinnerte, endete knapp vier Ellen über dem Boden, wo es sich auf eine mit Gras ausgefüllte doppelte Reisigwand stützte, die sowohl innen als auch außen mit Lehm verputzt war. Khor liebte es, über den erstaunlich glatten Lehmverputz zu streichen, konnte man doch fast meinen, dass es die Haut eines riesigen gemütlichen Lebewesen war, das die Bewohner bereitwillig in sich aufnahm und sorgsam wärmte und behütete. Die vorwiegend dunkelrote Bemalung des Verputzes, der zum Teil mit überaus raffiniert miteinander verwobenen Ornamenten in helleren Rot- und Gelbtönen geschmückt war, wurde in den zwölf Stützpfeilern und mindestens doppelt so vielen Querbalken fortgeführt und verstärkte die Wirkung, als ob man sich im Bauch eines riesigen Tieres befand. Und die überreich verwendeten, prächtigen Stoffe taten das Ihre dazu. Zudem schufen sie diese eigentümlich vertrauliche Raumstimmung, indem sie den Tönen alles Laute und Grelle nahmen. Zwei der Pfeiler – sie markierten den persönlichen Bereich der Großeltern ‑ waren im Laufe der Generationen zu reich verzierten Schmucksäulen herausgearbeitet worden. Stundenlang konnte sich Khor mit ihnen beschäftigen. Gab es doch dort, in dieser geschnitzten, bemalten und intarsierten grenzenlosen Welt so viel nie zuvor Gesehenes zu entdecken. Geschnitzte Drachen drohten einem möglichen Eindringling, stilisierte Falken stellten sich als Stützen für die Querbalken zur Verfügung, dort jagten Krieger einen Eber und hier lag ein Paar eng umschlungen in seinem Bett. Anlässlich jedes Besuchs bei den Großeltern hatte Khor eine neue Einzelheit entdeckt, die er bislang im Gewirr der Ornamente übersehen hatte. Irgendein Unzufriedener hatte vor langer, langer Zeit am untersten Ende einer der Säulen sogar die hockende Rückenfigur eines sich gerade Erleichternden hineingeschnitzt. Sein Hinterteil glänzte schon ganz blank, da man seit Generationen glaubte, dass es Glück brachte, wenn man es streichelte. Natürlich waren die Kinder bei ihrem Eintreffen – selbstverständlich erst nach der geziemenden Begrüßung der Großeltern und aller anderen Mitbewohner des Hauses ‑ sofort dorthin gerannt, um das Unaussprechliche wieder einmal mit eigenen Augen zu bestaunen. Sie kicherten albern wie jedes Mal und freuten sich insbesondere über den detailliert ausgeführten kleinen Haufen unter dem Hinterteil ihres Ahnen.
An den Außenwänden, dort, wo sie das Dach stützten und ein Erwachsener sowieso nur noch knien konnte, waren die Schlafstellen, die man mit an den Stützbalken befestigten Stoffbahnen voneinander abgeteilt hatte, so dass jeweils im linken sowie im rechten Teil des Hauses eine regelrechte Flucht von Räumen aus Stoffwänden entstanden war. Wie reich waren diese eigens zu diesem Zwecke hergestellten Vorhänge bestickt! Khor war sich sicher, dass dort echte Goldfäden eingewebt waren, traute sich aber nie recht, danach zu fragen, um nicht als habgierig zu erscheinen. Aber auch ohne Goldfäden waren sie derart prächtig und üppig geschmückt, dass Khor mit seinen Augen stundenlang über sie wandern konnte und immer wieder neue Wunder entdeckte. Die beiden jeweils auf halber Höhe des Daches verlaufenden Holzpfeilerreihen teilten das Haus in seiner ganzen Länge in drei Schiffe auf: Während das Linke sowie das Rechte jeweils den Schlafnischen vorbehalten waren, blieb die Mitte des Hauses ‑ genauso wie der Dorfanger inmitten einer Ansiedlung ‑ allen Bewohnern frei zugänglich. Zudem waren die beiden mittleren Nischen nicht vom Mittelschiff abgeteilt worden, so dass genau dort, im Zentrum des Hauses, wo auch die Feuerstelle war, sich der Familientreffpunkt befand.
Noch lange war man in dieser Nacht am Feuer gesessen und hatte einander alte und neue Geschichten erzählt. Njörd war der Erste, der zur Verwunderung der Eltern fest eingeschlafen war, wussten sie doch nichts von seinem geheimen Metgenuss. Vorsichtig wurde er vom Vater in die den Besuchern bereitgestellte Schlafnische getragen, die jener der Großeltern gegenüberlag. Üblicherweise wurde sie von Frickas Bruder und seiner Familie bewohnt. Zu Ehren des Besuches hatte man sie jedoch bereitwilligst geräumt. Es waren nämlich die jeweils hintersten Nischen, die wegen ihrer Nachbarschaft zum rückwärtigen Teil des Hauses, wo das Vieh untergebracht war, in den noch immer kalten Nächten am meisten Wärme versprachen. Dass die Großeltern dort wohnten, war selbstverständlich, denn althergebracht schlief jeder Hausherr neben seiner Stallung. War ihm doch daran gelegen, auch des Nachts in der Nähe seines wertvollsten Besitzes, nämlich des Viehs, zu sein. Großvater behauptete immer, dass er zudem am Schlaf der Haustiere feststellen konnte, wie der nächste Tag werden würde. Neben einigen Schafen, die wegen ihrer offensichtlichen Gleichmütigkeit von den Kindern für leidlich blöde und wenig unterhaltsame Geschöpfe gehalten wurden, gab es drei Ziegen, die man tunlichst mied, da man nie wissen konnte, ob sie einen im nächsten Augenblick nicht mit einem schmerzhaften Rempler überraschten. Bei den Auerochsen musste man sich ebenfalls vorsehen, zu groß war ihre Kraft, als dass ein selbst unbeabsichtigter Knuff gänzlich ohne Verletzung ausgegangen wäre. Die Schweine allerdings, obwohl es die Erwachsenen gar nicht gerne sahen, waren die liebsten Spielgefährten der Kinder. Spätestens wenn die Kinder es so weit trieben, dass die Tiere anfingen, lauthals zu quieken, gingen die Eltern jedoch dazwischen. „Das gibt nur zähes, festes Fleisch, wenn ihr ihnen so zusetzt!“, kam jedes Mal die Ermahnung, warum dieser Spaß zu unterbleiben hatte. Doch ungeachtet eines drohenden Festtagsbratens mit zähem Fleisch hatte Perachta, ihrem überschießenden zärtlichen Gefühl folgend, tatsächlich eines der Ferkelchen mit sich ans Feuer gezerrt, wo die gesamte Familie schwatzend beisammen saß. Allein weil alle viel zu sehr beschäftigt waren mit dem Austausch der Neuigkeiten, aber auch wegen der Tatsache, dass das Ferkel sich dieser freundschaftlichen Entführung noch nicht einmal andeutungsweise widersetzte, ja, sie sogar wohlig zu genießen schien, war zu verdanken gewesen, dass niemand der Erwachsenen einschritt, um das Tier wieder zu entfernen. Auf ihrem bequemen Sitzpolster aber war Perachta an ihrem Daumen nuckelnd alsbald eingeschlafen, während das Ferkelchen in ihren Armen zufrieden und schließlich Aufsehen sowie Belustigung erregend schnarchte. Perachta war somit die Nächste, die vom Vater ins Bett befördert wurde, selbstverständlich erst, nachdem er das Schwein an den ihm zugedachten Ort verfrachtet hatte.
Eines nach dem anderen waren die Kinder eingeschlafen, selbst die Knechte und Mägde hatten sich schon zurückgezogen ‑ warteten doch eine Reihe von so langen wie anstrengenden Tagen auf sie ‑, so dass nur noch die Großeltern, der Hoferbe und seine Frau, Fricka und ihr Mann sowie deren beiden Ältesten, Khor und Jord, am langsam verlöschenden Feuer saßen. Großmutter summte ein uraltes Lied, das in seiner altertümlichen Sprache von dem fernen Sehnsuchtsort Urukuru erzählte, aus dem die Vorfahren einst hierher gekommen waren und das Wissen um den Ackerbau mitgebracht hatten. Jenes Urukuru lag unerreichbar fern, irgendwo zwischen zwei großen Flüssen, die das Land reich und fruchtbar machten. An diesem Ort gab es keine dunkle, kalte Jahreszeit, jeden Tag schien die Sonne - und Schnee sowie Eis waren gänzlich unbekannt. Niemand musste sich dort krumm schuften, so fruchtbar war die Erde und die Wälder waren übervoll mit Hirschen und Wildschweinen, so dass es ein Leichtes war, jeden Tag ein Festmahl aufzutischen. Trotz allen Reichtums aber, so schloss das Lied selbst für den sehnsuchtsvollsten, ja, vielleicht sogar neidischen Zuhörer versöhnlich, mussten auch die Bewohner Urukurus eines Tages sterben, so dass selbst sie, die Glücklichsten unter der Sonne, den Weg allen Fleisches gingen.
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