1 ...8 9 10 12 13 14 ...36 Großvater kündigte an, dass er den Besuchern gleich morgen sein Haus für die Ewigkeit zeigen wolle, das zu bauen er schon drunten in der weiten Flussebene angefangen hatte und das ihm und seiner Frau, ausgestattet mit allen Dingen des täglichen Lebens, eines Tages als Heimstatt für ihren Aufenthalt in der Anderwelt dienen würde. Khor hatte schon zahlreiche dieser Hügelgräber gesehen, die für alle Zeiten von der Bedeutung ihrer Erbauer berichteten. Aber natürlich wusste er auch, dass sein Vater diesem alten Glauben nichts abgewinnen konnte. Auch Vaters Vorfahren hatten sich vor Generationen in diesem Landstrich niedergelassen und den Glauben an die Sonne als einzig wahre Gottheit mitgebracht. Um in die Anderwelt zu gelangen, ließen sie sich nicht mit ihrem Hausrat oder gar ihren Leibeigenen in einem riesigen Grabhügel bestatten, sondern taten genau das Gegenteil: Sie ließen ihre Körper verbrennen, um sich von allem Dinglichen dieses Lebens zu befreien und um die Sonne mit der Hitze ihres den Flammen übereigneten Körpers zu nähren. Vor vielen, vielen Jahren hatte es noch blutige Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der beiden Glaubensrichtungen gegeben. Im Lauf der Zeit jedoch hatte man gelernt, friedlich mit- und nebeneinander zu leben, so dass es manchmal sogar – wie in Khors Familie ‑ vorkam, dass es selbst innerhalb einer Sippe die unterschiedlichsten Anschauungen gab.
Vater hatte nie ein Hehl daraus gemacht, dass er die uralte Sitte, auch die Diener und Leibeigenen sowie einen Großteil des Viehs mit in den Tod zu nehmen, schlichtweg für barbarisch hielt. Glücklicherweise hielten aber auch die Großeltern nichts davon und beschränkten sich darauf, Bier, Met und Lebensmittel in lediglich symbolischen Mengen für ihren Aufenthalt in der Anderwelt bereitzuhalten. Gemeinsam war allen Glaubensrichtungen jedoch die Zuversicht auf ein Weiterleben nach dem Tode. Sei es mit den in den Hügelgräbern bestatteten und so in die Anderwelt hinübergeretteten Körpern oder eben als körperlose Geistwesen, die durch das Feuer von allen irdischen Beschwernissen befreit, endlos in Raum und Zeit in ihrer endgültigen Daseinsform existierten. Vater hatte Khor einmal den Körper eines erschlagenen Fremden gezeigt, dem man im Wald aufgelauert, ihn beraubt und schließlich ermordet hatte. „Meinst Du wirklich“, hatte er ihn damals gefragt, „dass dieser stinkende Klumpen Fleisch und Knochen im Schattenreich weiterleben wird?“ Und voller Mitgefühl hatte er dem Erschlagenen einen letzten Dienst der Mitmenschlichkeit erwiesen, indem er ihn auf einem eilig errichteten Scheiterhaufen verbrannt hatte.
Khor lag noch lange wach und dachte über vieles nach: War doch das Ende seiner Großeltern genauso abzusehen, wie das seiner Eltern - aber auch das seine. Er grübelte darüber, dass das irdische Dasein viel zu kurz war, um all die Dinge zu erforschen, die ihn doch so brennend interessierten. Seit er klein war, träumte er davon, eines Tages Urukuru zu finden und die Sage zur Gewissheit werden lassen. Und wenn er einmal seine eigene Familie hätte, wollte er in einem ebenso schönen Haus leben wie die Großeltern. Er würde dafür sorgen, so hatte er sich fest vorgenommen, dass seine Eltern sowie Geschwister ihr irdisches Leben ohne Mühen und Plagen genießen können. Morgen aber würde er mit den Eltern zunächst die übrigen Verwandten besuchen und sich dann erst einmal gründlich im Dorf sowie im Pilgerlager umsehen. Es würden bestimmt auch wieder jede Menge Gaukler und Schausteller gekommen sein. Ja, und vielleicht würde er ein wenig mehr davon in Erfahrung bringen können, was die Priester ihn denn wahrscheinlich alles fragen werden, wenn er ihnen schließlich vorgestellt werden würde. „Aber bis dahin“, grunzte er entspannt, „werden noch ein paar Tage vergehen …“ und zog das wohlig warme und weiche Schlaffell bis unter die Nasenspitze, das so eigentümlich wie wohlig nach Großmutter roch.
Khor tat langsam schon die Rechte weh, so viele Hände hatte er an diesem Morgen bereits geschüttelt. Nahezu jeder Bewohner des Dorfes schien mit ihm verwandt zu sein und wollte demnach auch gebührend begrüßt werden. Sobald die Sonne aufgegangen war, hatten sich die Eltern ‑ begleitet von den Großeltern und mit Khor und Jord im Schlepptau ‑ auf den Weg zum Hof des Dorfältesten gemacht, der auf einer weitläufigen Terrasse auf halber Höhe des Mittelbergs lag. Und der längste Teil des Weges führte quer durchs Dorf - was schließlich auch Khors schmerzende rechte Hand verursacht hatte. Vater hatte einen erklecklichen Anteil der Kohle von seinem Wagen auf eine kleinere Handkarre umgeladen, um dem Fürsten, dem Ersten unter Seinesgleichen, seinen Tribut zu zollen. Und natürlich zog eine jede der Karren, die an diesen Tagen zur Fürstenburg hinauf gebracht wurden, allergrößte Aufmerksamkeit auf sich. Denn jeder der Dorfbewohner war neugierig, wie groß denn die Ehrerbietung des jeweiligen Karrenziehers seinem Herrn gegenüber schließlich sei. Und die zeigte sich in den von allerorts angelieferten Waren und Tributen eben am anschaulichsten.
Nähere Verwandte und Freunde begrüßte man im Vorübergehen mit Handschlag und wechselte schnell ein paar Worte mit ihnen, manchmal auch, um sich für einen der nächsten Tage zu verabreden. Anderen wurde nur freundlich zugenickt oder gewinkt und wieder andere schienen die Eltern und Großeltern gar nicht erst zu bemerken. Ja, Khor hatte den Eindruck, dass, je weiter sie den Berg nach oben stiegen, desto weniger häufig schließlich auch die Begrüßungen wurden.
War Khor das Haus der Großeltern schon riesig vorgekommen, so erschienen ihm jetzt, wo er vor ihr stand, die Ausmaße der Fürstenburg geradezu überwältigend. Das sicherlich fast doppelt so breite und mindestens ebenso lange Haus schmiegte sich an den Hügel des Mittelberges und war hangabwärts von zahlreichen kleineren Katen und Hütten umgeben, in denen die Knechte und Mägde lebten, aber auch die Krieger, auf die der Fürst seine Macht letztendlich stützte. Die gesamte Ansiedlung war von einem mannshohen Palisadenzaun umgeben, dem seinerseits eine flache Grube vorgelagert war, die sicherlich früher einmal sehr viel tiefer und breiter gewesen sein musste. Versperrte dieser Zaun ansonsten den Blick auf das tiefer gelegene Dorf, so war der Ausblick direkt vor dem Fürstenhof geradezu grandios: Das Dorf sowie die ganze weite Ebene bis zum Zerbrochenen Berg lagen dort dem Betrachter sprichwörtlich zu Füßen.
Der Hausmeier hatte die Besucher förmlich, aber freundlich begrüßt und sogleich damit begonnen, die mitgebrachte Holzkohle auf Qualität und Menge abzuschätzen. Und bevor sich’s Khor versah, waren die Kohlebündel ‑ von flinken Händen davongetragen ‑ im weit geöffneten Schlund des Fürstenhauses verschwunden. Wortlos winkte der Hausmeier den Besuchern, ihm zu folgen und einzutreten. Khor spürte, wie das enorme Bauwerk auf jeden der Besucher eine geradezu einschüchternde Wirkung hatte. Selbst Großvater, der ansonsten immer die Ruhe selbst und kaum einmal zu beeindrucken war, schien ein wenig angespannt zu sein, als er den Eingangsbereich betrat. War das dreischiffige Langhaus der Großeltern schon beeindruckend genug, so verschlug es Khor nun geradewegs den Atem. Nicht weniger als vier, jeweils sehr viel breitere Schiffe gliederten das Anwesen, von denen die beiden äußeren ebenso mit Vorhängen abgeteilt waren und als Schlafnischen dienten. Die beiden mittleren Schiffe jedoch umrissen eine schier unendlich große Halle, durch die sie nun dem Hausmeier folgten. Zahllose Dienstboten huschten umher, fegten den festgestampften Lehmboden, trugen Lebensmittel herbei und schleppten Unmengen von hölzernem und tönernem, aber auch prächtig glänzendem, offenbar metallenem Essgeschirr von der Reinigung am Brunnen herein. Kaum einer würdigte die Neuankömmlinge eines Blickes, waren doch alle viel zu sehr mit ihren eigenen Aufgaben beschäftigt.
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