Wieland Barthelmess
KHOR - Ein historischer Roman aus der Bronzezeit
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Inhaltsverzeichnis
Titel Wieland Barthelmess KHOR - Ein historischer Roman aus der Bronzezeit Dieses ebook wurde erstellt bei
PROLOG: PROLOG:
Der Sohn des Köhlers
Zum Mittelberg
Die Fürstenburg
Yasemin
Tag- und Nachtgleiche
1. BUCH:
Wage, zu wissen
Aufbruch
Der Wolf
Das Böse
Wolfshund
Neue Götter
Baldr
Horand
Die Stadt an der Odrawa
2. BUCH:
Gwenaël
Gotenansk
Reisepläne
Kundurla
Die Sterne weisen den Weg
Reinoldsburg
Yasemins Sohn
Horands Rettung
Abalon
Tudje
3. BUCH:
Tante Una
Übers Meer
Gwenaëls Heimat
Cerdric
Der Große Steinkreis
Zukunftspläne
Impressum neobooks
PROLOG:
„Verflucht! War das kalt geworden!“
Khor zog das Fell ein wenig höher. Vorsichtig genug, um nicht zu übertreiben, weil dies nämlich seine Füße abgedeckt hätte. Alleine schon der Gedanke an die kalten Zehen, Fersen und Knöchel ließ ihn schaudern.
Schließlich zog er die Beine wie ein Ungeborenes an und gönnte sich ganz vorsichtig das Stückchen mehr Fell an seinen Schultern. Obwohl er spürte, dass die Sonne sich bereits angeschickt hatte, ihren Tageslauf zu beginnen, kniff Khor die geschlossenen Augen noch fester zusammen, um nur noch tiefste Dunkelheit zu sehen. Hoffte er doch, sich schnell wieder in seinen unterbrochenen Träumen einfinden zu können. Vielleicht würde der ewige Nebel sich heute endlich einmal auflösen, dachte er noch. Dann könnte die Sonne ihren frierenden Kindern schließlich wieder ein wenig mehr von ihrer Wärme schenken. Ein Lächeln huschte über Khors Gesicht, als er an sie dachte: Die Sonne, die runde warme Mutter, die zärtlich ihre Kinder streichelt und die er den ganzen langen Winter so sehr vermisst hatte. Sie, die über alle wacht und darauf achtet, dass es ihnen an Nichts fehlt. Die das Getreide wachsen lässt, indem sie die Halme lockt, sich zu ihr in die Höhe zu recken. Die die Lerche trillernd in die Luft fliegen lässt, damit die Herrin über Werden und Vergehen ihr Loblied besser hören kann. Die die Fische im Fluss springen macht, einfach, weil sie glücklich sind, unter ihr sein zu dürfen. Und freilich – brennen konnte sie auch so manches Mal, sogar schmerzhaft.
„Typisch Mutter“, brummte Khor und schmatzte zufrieden, als er sich wohlig unter sein Fell kuschelte.
Vater war mitten in der Nacht aufgestanden. Das hatte er mitbekommen. Und er hatte gehofft, dass der Alte nicht so viel herumklappert und schnell aus dem Haus kommt. Aber der war dies gewohnt und hatte gelernt, seine Familie möglichst wenig zu stören, wenn er zur Arbeit aufbrach. Sein ganzes Leben lang war Khors Vater zu den unmöglichsten Tages- und Nachtzeiten aus dem Haus gegangen. War es doch nötig, den Meiler in festen Zeitabständen zu überwachen, wenn er denn erst einmal in Brand gesetzt worden war.
Als kleines Kind dachte Khor gar, dass sein Vater überhaupt nicht schlafen würde. Wie einer jener allmächtigen Götter, von denen die Leute erzählten und die der Vater immer als „grobschlächtige Heidenhelden“ abtat. Doch eines Tages hatte Khor ihn auf der Bank vor der Kate gefunden. Am hellen Morgen hatte er stumm und unbeweglich dort gesessen. Sofort war es Khor in den Kopf gekommen, dass der Vater tot sein könnte. Wie versteinert hatte er auf den hingesunkenen Mann geglotzt und sich kaum getraut, zu atmen, geschweige denn, sich zu bewegen. Nicht etwa aus Angst. Nein, es war die bewundernde Ehrfurcht vor dem Mann, der ihm damals so gottgleich vorgekommen war. Vater, der immer Gegenwärtige, der die Seinen stets fühlen ließ, dass er sie beschützte, der sich sorgte, der alles wusste und dessen Hand so stark war, dass er Khors Kinderfaust spielend zerquetschen konnte. Dort saß er nun mit einem Gesicht, das seltsam verjüngt schien. Geradeso als ob man alle Falten und Runzeln wieder glatt gezogen und die letzten Lebensjahrzehnte aus seinem Gesicht getilgt hätte. Geradeso als ob der Vater das Leben wieder zurückgegeben hätte, dorthin, von wo er es einst mit einem lauten Schrei empfangen hatte.
Khor war wie gefangen von dem Anblick. Denn wenn es wahr wäre, dass der Vater tot sei, dann wäre seine Welt, so wie er sie bislang kannte, von einem Atemzug zum nächsten erloschen. Was würde mit ihnen geschehen? Mit Mutter? Mit den Schwestern? Khor erinnerte sich, wie ihm damals, mitten im Sommer, eiskalt wurde und eine bis dahin nicht gekannte Angst in ihm aufstieg. Schließlich hatte er aber doch gesehen, wie sich ein paar Barthaare unter der Nase des Vaters bewegten. Erleichtert und erschrocken zugleich war er mit einem schlechten Gewissen davongeschlichen, sich aufs Innigste schwörend, dass er nie und niemandem je ein Wort über das soeben Gesehene und Gedachte würde sagen werden. Kam es ihm doch wie Verrat vor, dass er es für möglich gehalten hatte, dass sein Vater tatsächlich tot sein könnte.
Khor schmunzelte, als er an seine kindlichen Erlebnisse dachte. Und zugleich schauderte ihn. Dies mochte vor zehn, zwölf Sommern gewesen sein, so dass er besser nicht darüber nachdenken wollte, wie oft sein Vater in den folgenden Jahren wohl ebenso erschöpft dagesessen hatte. Und er spürte es wieder, jenes Gefühl von damals: Die Furcht, von seinem Vater eines Tages alleine gelassen zu werden. Also sagte ihm seine weiße Seele, dass es nun doch langsam an der Zeit wäre, aufzustehen, damit er seinem Vater am Meiler zur Hand gehen könne. Aber Khor wusste genau, dass der nicht klagen und schweigend weiter seine Arbeit verrichten würde, wenn der Sohn wieder einmal zu etwas fortgeschrittenerer Tageszeit bei ihm einträfe.
„Bist du noch nicht aufgestanden, du fauler Bengel?!“ In der rechten Armbeuge einen zuversichtlich großen Korb mit lediglich zwei Eiern darin hatte die Herrin des Hauses den Schauplatz betreten, während sie einen toten, bereits gerupften und ausgenommenen jungen Schwan in der emporgereckten Linken drohend schwenkte. Mit hochrotem Kopf, von dem sich einige vom Rupfen übrig gebliebene schneeweiße Flaumfedern deutlich abhoben, so dass ihr Gesicht Khor an einen prächtigen Fliegenpilz erinnerte, baute sie sich vor ihrem vorgeblich schlummernden Sohn auf.
„Ich klatsch dir gleich den Schwan ins Gesicht!“
Khor brauchte erst gar nicht nach ihr zu sehen, wusste er doch, welches Bild sich ihm bieten würde. Liebevoll strahlte sie ihren schläfrigen Sohn an, so als ob sie ihn gleich in die Arme nehmen und herzen wolle. Doch Khor wusste nur zu gut, dass sie ihm mit eben demselben Gesichtsausdruck Schwäne, Gänse, Schweinehälften, Tiegel oder was auch immer gerade greifbar war, um die Ohren hauen konnte. Einmal gereizt konnte Mutter unerbittlich sein. Dennoch fühlte er sich immer von ihr geliebt, selbst in diesen schmerzhaften Augenblicken. Denn es war ihr von Herzen aufrichtiges Lachen, das voller Liebe und Mitgefühl den Vorfällen schnell wieder ihren Schmerz nahm.
„Na also, geht doch!“, sang Mutter in einer ihrer ständig neu erdachten Melodien.
Schnell war Khor im Hemd vor die Kate gerannt, insgeheim fürchtend, dass es vergangene Nacht wieder so kalt gewesen sein könnte, dass er erst einmal das Eis vom Fass würde schlagen müssen. Doch er merkte bald, dass sich heute wohl tatsächlich der Nebel endlich auflösen würde, so dass die Sonne wieder ein wenig mehr von ihrer Wärme senden konnte. Er blinzelte nach ihr, sah aber nichts weiter als den nunmehr seit Monden üblichen hellen runden Fleck hinter den grauen Schleiern.
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