Länger als geplant saß die Familie an diesem Abend nach einer halbwegs üppigen Vesper noch beisammen. Mutter hatte Khor und Jord je ein neues Gewand für den morgigen Tag bereitgelegt und selbstverständlich die Enttäuschung in den Gesichtern ihrer anderen Kinder wahrgenommen.
„Ihr kommt einer nach dem anderen ein jeder an die Reihe“, sagte sie aufmunternd, wohl wissend, dass diese Aussicht kaum geeignet war, um an diesem Abend wirklich zu trösten. Aber keines ihrer Kinder wagte es, eine Missstimmung zu zeigen, wussten sie doch, dass Mutter Wort halten und für jedes von ihnen seine Zeit kommen würde. Während Vater sich noch an das Verpacken der unterschiedlichsten Dinge machte, die er auf dem Marktfest einzutauschen gedachte oder einem der zahllosen Verwandten mitzubringen versprochen hatte, brachte Mutter, unterstützt von ihren ältesten Töchtern noch zu später Stunde wieder alles in Ordnung. Denn nichts hasste sie mehr, als Tage später in ein unaufgeräumtes Haus zurückzukehren.
Die kleine Perachta schlummerte schon längst selig an ihrem Daumen nuckelnd und sogar Njörd waren trotz seines ständigen Gezappels schließlich die Augen zugefallen. So saßen die Eltern nach getaner Arbeit noch ein wenig mit ihren beiden ältesten Kindern am großen Tisch beisammen.
„Es wird alles gut“, sagte Vater in die Stille. Und obwohl bislang kein einziges Wort darüber verloren worden war, was sie alle so offensichtlich beschäftigte, fühlte ein jeder sich verstanden. Jord fürchtete sich ein wenig davor, vielleicht zu einer Entscheidung gedrängt zu werden, die sie noch gar nicht treffen konnte. Die Großeltern hatten schon beim letzten Herbstfest ein paar Bemerkungen fallen lassen, die sie zwar nicht so ganz verstanden, die ihr aber dennoch ein wenig Unbehagen bereitet hatten. Und Khor hing seinen Gedanken an die Achtung gebietenden Priester nach und seinen Bedenken, ihren Ansprüchen gerecht werden zu können.
„Alles wird gut“, wiederholte Mutter und schlug vorsichtig mit beiden Händen flach auf den Tisch, was eindeutig anzeigte, dass es Zeit war, ins Bett zu gehen.
Schnell war Ruhe in der Köhlerhütte eingekehrt, obgleich Khor noch wach lag und sich sicher war, dass auch Jord noch ihren Gedanken nachhängen würde. Auch die Eltern schienen noch immer nicht zu schlafen. Er hörte ihr Flüstern und so manches Kichern und unterdrücktes Lachen. Er zog seine Beine an und machte sich solcherart so klein, dass er sich das Schlaffell ganz über die Ohren ziehen konnte, ohne dass seine Füße am anderen Ende hervorragten. Schämte er sich doch immer ein wenig für seine Eltern, wenn sie wieder einmal nicht voneinander lassen mochten, obwohl sie ihr peinliches Stöhnen zu vermeiden suchten, das ihre Lust aneinander verriet.
„Aber alles wird gut“, sagte er sich und schlief schließlich todmüde ein.
„Aufstehen, ihr Schlafmützen!“ Mutter klatschte mehrfach in die Hände und augenblicklich huschten und plapperten die Kinder durcheinander. Nur Perachta war es offensichtlich noch zu früh am Morgen – die Sonne war noch längst nicht aufgegangen -, so dass ihre Augen immer wieder zufielen und sie mehrfach wieder einschlief. Zärtlich nahm Mutter sie auf den Arm und setzte das schläfrige Kind zu den anderen an den Tisch. Für jeden hatte sie heute eine Schüssel mit herrlich warmem Haferbrei vorbereitet. Und in der Mitte jeder üppig mit grauem Brei gefüllten Schüssel schwamm ein kleiner goldener See aus Honig, auf dem eine eingelegte Walnuss prangte. Was für ein köstlicher Tagesanfang!
Musste die Mutter ihre Kinder während des Frühstücks ansonsten nur allzu oft antreiben, damit sie endlich aufäßen und schließlich ihr Tagewerk beginnen konnten, so hörte sie sich an jenem Morgen des Öfteren zur Ruhe mahnen. „Schling nicht so!“, sagte sie zu Njörd, warf aber auch ihren anderen Kindern einen entsprechenden Blick zu. Jord, als die Älteste, hatte sich - ob ihrer sich selbst zugesprochenen Vorbildfunktion - über ihr eigenes fahriges Verhalten derart erschreckt, dass sie sich prompt verschluckte und erbärmlich husten musste. Und schon trommelte Njörd seiner geplagten Schwester mit aller Kraft auf den Rücken. Augenblicklich kamen ihr die anderen Mädchen zur Hilfe und bändigten den unerwünschten Lebensretter, der, kaum war er mit vereinten Kräften wieder an seinen Platz gesetzt worden, seine Schüssel an die Lippen setzte und sich den Brei mit drei zu einer Schaufel geformten Fingern in den Mund schob. Fast wäre die hastig einverleibte Speise wieder in der Schüssel gelandet, als Mutters Hand klatschend auf Njörds Hinterkopf traf. „Du altes Ferkel“, schimpfte sie, gab ihm aber sogleich einen schmatzenden Kuss auf die Wange, da sie ein missgelauntes oder beleidigtes Kind an einem solchen Tag so überhaupt nicht brauchen konnte.
Vater, der soeben erst eingetreten war ‑ er war noch mit der Beladung des Karrens beschäftigt ‑ tat wie immer so, als hätte er von alledem nichts gesehen oder gehört. Eben so, als ob ihn all das Gezeter und Gequengel überhaupt nichts angingen. Und doch wussten die Kinder, dass sie es nicht allzu weit treiben durften. Denn sollte Vaters zur Schau gestellter Gleichmut erst einmal ein Ende gefunden haben, konnte es mit der aufgedrehten Ausgelassenheit ganz schnell vorbei sein. Was für ein schrecklicher Gedanke, wegen irgendeiner Unbotmäßigkeit hinter der Karre her trotten zu müssen und – für alle sichtbar! ‑ als Letzter im Dorf einzutreffen. Augenblicklich zeigten sich die Kinder von ihrer artigsten Seite.
„Nun denn…“, sagte Vater wie zu sich selbst und schnürte den Gürtel um sein schönes Fellwams, das er über dem blauen Feiertagskittel trug. Sofort verstanden dies alle als unmissverständliches Zeichen zum Aufbruch. Was zunächst wie ein heilloses Durcheinander aussah, da jedes der Kinder plötzlich ohne auch nur ein Wort zu verlieren hierhin rannte und dorthin, stellte sich schnell als klug überlegte Abreisevorbereitung heraus. Khor zog seinen neuen Kittel an, der fast genauso aussah wie der des Vaters: Blau und am runden Kragen sowie an der Außenseite der Ärmel mit einem schmalen Streifen heiliger Ornamente bestickt. „Ja“, murmelte Khor stolz, als er mit den Fingern über die Stickerei strich. „Richtig bestickt!“
Gewöhnlich trug man Alltags nur ein schlichtes blaues Hemd. Der Feiertagskittel jedoch, war an Kragen und Ärmeln mit einer üblicherweise hellblau und weiß bestickten Leiste geschmückt. Meistens tauschte man diese, üblicherweise von alten Weibern gefertigten Leisten auf dem Markt ein und die Schwestern nähten sie dann schließlich auf den Kittel. Hier aber, an diesem, seinem Feiertagskittel, hatte die Mutter bald ein Jahr lang gearbeitet und ihn selbst bestickt. Jedes einzelne der mehrfarbigen Ornamente berichtete ihm von dem Tag, an dem es entstanden war, von der Stimmung die damals im Hause geherrscht hatte, von mancher Niedergeschlagenheit, aber auch von viel Freude und Glück. Und Mutter war hartnäckig. Jeden Abend hatte sie sich den Kittel zumindest für ein paar Stiche vorgenommen. Geheimnisvolle Zeichen waren darunter, die Khor nicht recht zu deuten wusste, ähnlich jenen auf Vaters Kittel. Der hatte Mutter unendlich viel Zeit gekostet, so prächtig war er. Fast jeder im Dorf drehte sich seither nach dem stolzen Vater um. Nicht wegen des wertvollen Materials etwa. Nein, es gab bei ihnen keine Bernsteine, Glasperlen oder türkisfarbene Fayencen. Sondern man tat es allein, weil man staunte, welch schier unendliche Arbeit sich seine Frau damit gemacht haben musste.
„Mein schöner, lieber Sohn“, lächelte ihn Mutter an und strich Khor liebevoll über den Kopf. Freilich auch, um bei dieser Gelegenheit seine verstrubbelte Mähne ein wenig zu bändigen.
„Ich danke Dir sehr, Mutter. Wirklich sehr, für den schönen neuen Kittel …“, nickte Khor.
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