Zum Frühstück brummte es in der Aula wie in einem Bienenstock. Neben lauten Rufen waren wie am Vortag noch vereinzelt quietschende Stühle zu hören. Einige der neuen Schüler wurden unsanft daran erinnert, dass sie auf den falschen Plätzen saßen. Unter den Neulingen herrschte jedenfalls große Aufregung.
Alle Schüler hatten sich, wie es hier üblich war, in ihre Kukullen gehüllt, die ein tolles Farbenmeer hervorriefen.
Auf den Emporen tummelten sich die älteren aus den anderen Stufen und standen zum Teil in Gruppen zusammen. Unzählige Augenpaare schauten auf das Treiben im Saal.
Unter ihnen gab es eine kleine Gruppe von Schülern, die sich über die Neulinge lustig machten. Einer von ihnen deutete in Paulines Richtung. Als Martin die Geste bemerkte, stupste er sie an. »Sieh mal, meint der dich?« Pauline schaute zu den älteren Schülern hinauf und merkte, dass der Junge neben ihr gemeint war.
»Du, schau mal da oben, da scheint dich einer zu kennen«, wandte sie sich an ihren Nachbarn und zeigte auf die kleine Gruppe. Der winkte hinauf, als er die Schüler sah und lachte über das ganze Gesicht.
»Kennst du sie?«
»Ja, das ist mein Cousin. Er ist zwei Klassen über uns.«
»Und wer bist du?«, wollte Pauline wissen.
»Ich bin der Joseph. Und der da oben ist Nicolas. Ich bin der Zweite aus unserer Familie hier auf Greifenstein.«
Die meisten Schüler hatten inzwischen Platz genommen und begannen mit dem reichhaltigen Frühstück. Den Neulingen fiel es noch schwer, sich zurechtzufinden.
»Da soll einer durchblicken.« Martin fühlte sich von der Situation überfordert. »Das hält man ja im Kopf nicht aus.« Mit einem Blick hinauf zu den Emporen meinte er zu Justus: »Hast du übrigens schon rausgekriegt, wie die da raufgekommen sind?«
Justus schüttelte den Kopf und zuckte nur mit den Schultern.
»Ist mir doch egal. Ich habe nur einen Riesenhunger. Lasst uns endlich was essen.«
Joseph hatte Martins Frage gehört. »Es gibt verschiedene kleine Temploctore, die zu diesen Emporen führen.« Martin sah ihn verwirrt an. Schon wieder diese Temploctore, die auch der Busfahrer erwähnt hatte.
Justus hatte sich inzwischen ein knuspriges Brötchen gepackt und bestrich es dick mit Marmelade. Alles, was das Herz begehrte, war zum Frühstück aufgefahren worden.
Aber mindestens so eindrucksvoll war die leuchtende Schrift, die unter seinem Teller zu sehen war. Auf dem Tisch vor ihm stand in großen Lettern:
»Guten Morgen, Justus« und darunter war zu lesen: »Wünsche wohl zu speisen!«.
»Nun seht euch das an«, entfuhr es ihm und deutete auf die Zeilen. »Steht bei euch auch so was?«
An den anderen Plätzen prangte derselbe Spruch mit den jeweiligen Namen.
»Das hat jeder von uns auf seinem Platz stehen. Scheint hier nichts Besonderes zu sein«, zeigte sich Pauline unbeeindruckt und schüttete sich dampfenden Kaffee in ihre Tasse.
Die Freunde genossen sichtlich das üppige Frühstück und die gute Übersicht über den gesamten Saal, die sie von ihren Plätzen aus hatten.
Miriams Stuhl, den Pauline zu sich herangezogen hatte, war jedoch noch leer.
»Hast du die andere nicht gesehen?«, fragte Justus und blickte verwundert auf den leeren Stuhl.
»Ich weiß nicht, wo sie steckt. Hab‘ nicht gesehen, wo sie hin ist. Sie liegt bei uns zwei Betten weiter.«
Doch kaum hatte sie es gesagt, kam Miriam schon zielstrebig auf ihren Tisch zu. »Ich musste noch einen geeigneten Platz für meine Geige finden«, sagte sie und ließ sich auf ihrem Platz nieder.
»Du spielst Geige?« Martin sah sie mit großen Augen an. »Super! Kannst uns ja mal was vorspielen.« Dabei grinste er Miriam kess an, so als wäre es schon beschlossene Sache.
Miriam sah ihn nachdenklich mit ihren blauen Augen an. Martin geriet in Verlegenheit. Sein Vorschlag war wohl etwas zu forsch gewesen.
Nach und nach betraten auch die Lehrer durch zwei Seiteneingänge neben der Empore den Saal. Fast unbemerkt war Meister Gregorius auf der Empore erschienen. Mit lauter Stimme bat er um Ruhe.
»Meine lieben Schülerinnen und Schüler«, schallte es durch den Saal. Wieder schien die Stimme von überall herzukommen. »Die neuen Klassen werden heute nach dem Frühstück zunächst die einzelnen Räumlichkeiten des Gebäudes kennen lernen, wie ich gestern schon mitgeteilt habe. Für die anderen geht der Unterricht dort weiter, wo er im letzten Schuljahr geendet hat.«
Die anderen Lehrer saßen inzwischen auf ihren Plätzen, tranken Kaffee oder Tee und ließen sich das Frühstück schmecken. Einige von ihnen blickten interessiert auf die große Schar der neuen Schüler und tuschelten vereinzelt miteinander.
Kurz darauf, das Frühstück neigte sich seinem Ende zu, erhob sich Madame Griseldis. »Ich bitte um kurze Aufmerksamkeit«, richtete sie sich an die Schüler. Auch sie war bis in den letzten Winkel des Saals zu verstehen.
»Wie ihr gestern schon erfahren habt, geht die Klasse Metatron heute zuerst mit mir in die Bibliothek, um dort alles kennen zu lernen, was für die Schüler wichtig ist. Die Klasse Muriel geht zusammen mit Madame Zetha Zethissima nach Interspatium und die Anaelianer haben ihre ersten Stunden in Epistemologium bei Meister Ethan.«
Augenblicklich legte sich bei der Ankündigung eine gespannte Stille über den Saal. Jetzt wurde es Ernst.
»Meine Klasse folgt mir bitte in das Eingangsfoyer.« Während sie noch sprach, hatten die Schüler der höheren Stufen die Emporen bereits verlassen.
Ein großes Geschiebe und Stühlerücken begann. Kurz darauf war Justus‘ Klasse im Foyer der Schule versammelt.
»Ich bin mächtig gespannt auf die Bibliothek. Sie soll Bücher zu allen nur erdenklichen Themen beinhalten«, wandte sich Justus an Erik, während sie sich ihr durch weite, hohe Gänge und breite Treppen näherten.
»Ich habe gehört, dass sie sogar zwei Ebenen haben soll. Und über der oberen Ebene soll eine mächtige gläserne Kuppel thronen«, schaltete sich Pauline ein. »Das hat mir eine Schülerin aus der Raphael-Klasse erzählt. Die sprach auch von verborgenen Räumen und langen Gängen, die nicht auf den ersten Blick zu sehen sind. Diese Bibliothek muss etwas ganz Besonderes zu sein. So klang es jedenfalls.«
Wenig später standen sie vor einer großen zweiflügeligen Holztür, über der sich ein schmuckvolles Schild mit der Aufschrift „Bibliothek“ befand. Rechts und links flankierten zwei unglaublich große Engel den Eingang. Sie schauten auf die Schar der quirligen Schüler herab, als wüssten sie nicht recht, ob sie diese Meute überhaupt einlassen sollten. Man konnte auch hier den Eindruck bekommen, als wären sie total lebendig, genau wie die Engel in der Eingangshalle.
Die beiden Türflügel besaßen bronzene Türgriffe, die die Form zweier Engel hatten. Auch die Gesichter dieser kleinen Engel erweckten den Eindruck, als wachten sie ebenfalls über die Bibliothek und deren Inhalt.
Erik betastete vorsichtig einen der beiden Griffe. Obwohl sie aus Bronze waren, fühlten sie sich warm und geschmeidig an.
»He, schau mal und fass’ mal an«, wies er Justus auf seine Entdeckung hin. »Die Griffe fühlen sich so ganz anders an, als wären sie überhaupt nicht aus Metall.«
»Tatsächlich, kaltes Metall ist was anderes. Die hier fühlen sich eher an, als wären sie lebendig«, stellte Justus fest. Verblüfft betastete er mit den Fingerspitzen die Griffe. »Ich frage mich wirklich, in welche Schule wir hier geraten sind. Das ist hier alles reichlich mysteriös.«
Es war in der Tat ein höchst erstaunliches Phänomen. Doch sie kamen nicht mehr dazu, sich weiter mit ihrer Entdeckung zu beschäftigen, denn im nächsten Augenblick stand Madame Griseldis bei ihnen. Kaum stand sie vor der Tür, schwangen die Türflügel geräuschlos wie von Zauberhand auf, und Madame Griseldis bat die muntere Schar hinein. Das brauchte sie nicht zweimal zu sagen, die warme Atmosphäre der Bibliothek zog die Schüler regelrecht wie von Geisterhand in den Saal hinein.
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