Arno hatte sich diese Aufgabe allerdings etwas leichter vorgestellt; alle Entscheider wimmelten dieses Ansinnen händeringend ab, bis sich ein Duisburger Lokalreporter mit geeigneten Beziehungen dieses Wunsches annahm. Nach einem halben Jahr wurde vom Präsidium endlich ein Termin vorgeschlagen. Da sich die Spürnasen kaum für Diebstahl- oder Verkehrs-Delikte interessierten, sondern handfestes Mord-Fluidum erleben wollten, landete das Projekt bei Kriminalrat Dr. Sowetzko; der fluchte kräftig in sich hinein und beschloss, hier keinesfalls persönlich eine Art Museumsführer zu spielen. Er machte sich folglich auf den Weg zum K21; eine charmante Dame wäre doch optimal für so eine Aufgabe ...
Marion, die vor ein paar Wochen im Prozess gegen Andreas Hohenburghof vor Gericht hatte aussagen müssen, las an diesem Morgen in der Zeitung das Urteil: fünf Jahre Haft wegen Totschlags. Ungläubig las sie den Satz noch einmal. Das durfte doch nicht wahr sein! – Dann verkündete sie wütend ihren Kollegen, welche Begründung es für das Urteil gab: „Der Angeklagte war geständig ... Das stimmt doch gar nicht! – Der hat die Tat bestritten, bis ihm sein Anwalt infolge der Beweislast zu einem Geständnis geraten hat. Seine Drogenabhängigkeit und finanzielle Notlage wurden strafmildernd bewertet. – Ich fasse es nicht!! – Ein psychologisches Gutachten der Verteidigung bestätigen ihm verminderte Zurechnungsfähigkeit wegen Liebesentzug durch die Mutter im Kindesalter. Der Inzest mit seiner Schwester sei dafür ein beredtes Zeugnis. Unfassbar!“ Frustriert schleuderte Marion die Zeitung in den Papierkorb.
Ein paar Minuten später kam Dr. Sowetzko herein, sprach ein paar nette persönliche Worte, druckste ein wenig herum und bereitete Marion schonend auf ihre verantwortungsvolle Aufgabe vor, die Weiterbildung des Krimischreiber-Nachwuchses aktiv zu unterstützen. Es sei nun mal von höchster Stelle gewünscht, man habe zugesagt. Es klang ein bisschen nach Entschuldigung.
„Wie – was? – Eine Abordnung von Berufsmördern?!“ Marion verdrehte die Augen. „O.k., ich beginne die Führung in der Pathologie, spreche dort aber zuvor mit Dr. Woilas, damit er den nach Blut lechzenden Papierkillern hübsch anschaulich und wunderschön detailliert herausgeschnittene menschliche Einzelteile präsentiert. So werde ich vermutlich erst mal die Hälfte der Horde los.“
Der Chef schien verwundert. Mit hoch gezogenen Augenbrauen meinte er: „Die Aufgabe scheint Ihnen nicht zu behagen.“
Wie haben Sie das bloß so schnell festgestellt?, wollte sie ironisch antworten, sagte aber nur knapp und eindeutig: „Nee.“
„Dann kann Petzold das doch übernehmen ...“
„Könnte er, - falls ich ihn für diesen Schwachsinn freistelle.“
Dr. Sowetzko schluckte über diese Anmaßung. Er hätte jederzeit Petzold eine entsprechende Anweisung erteilen können, ohne die Hauptkommissarin oder sonst jemanden fragen zu müssen. Die Dame schien heute wohl etwas unpässlich zu ein. Um eine Eskalation zu vermeiden, ging er wortlos und kopfschüttelnd von dannen. Nachdem der erste Zorn verraucht war, erinnerte er sich zurück an jene Zeit, als er selber noch Kommissariatsleiter war. O, wie wütend machte es ihn damals, wenn von höherer Stelle seine Planungen durchkreuzt wurden! Und erst recht, wenn total unwichtige Dinge oder pure Eitelkeiten der Obrigkeit dafür der Grund waren. Dennoch hätte er sich eine solche „Frechheit“ nicht herausgenommen. „Sollte das ein Lehrstück aus dem Buch „Wie erziehe ich meinen Chef“ sein?“, murmelte er vor sich hin und rang sich allmählich zu der Einsicht durch, dass der Einwand vielleicht doch ein ganz klein wenig berechtigt war. Er griff schließlich zum Telefon. „Tut mir Leid, Frau Zelenka – ich hatte Sie nur um einen persönlichen Gefallen bitten wollen ...“
„In Ordnung”, sagte Marion knatschig nachgebend. „Ich mach’s ja.“ Und dachte bei sich: Na bitte, - es geht doch . -
Elf Spürnasen, sechs Herren und fünf Damen, fanden sich pünktlich eine Woche später im Polizeipräsidium ein und wurden von Marion in einen Raum geführt, der sonst für längere Verhöre zur Verfügung stand. Da sie inzwischen milder gestimmt war und auch mit Rücksicht auf die fünf Damen in der Runde, stellte sie einen kurzen Besuch in der Pathologie an den Schluss, natürlich nur für Freiwillige. Zuerst durften die Gäste mal allgemeine Fragen stellen und auch Wünsche äußern, was sie gern sehen möchten. Da wurde natürlich die Asservaten-Kammer genannt, - dem Wunsch wurde stattgegeben. Die Zellen der Untersuchungs-Gefangenen wollte man sehen, - dem wurde natürlich nicht stattgegeben.
„Auch bei uns gelten allgemeine Datenschutzregeln”, erklärte die Hauptkommissarin.
Als Sprecher tat sich Arno hervor. Der eher zurückhaltende, ja etwas menschenscheue Mann genoss die Rolle, die ihm hier zugefallen war. Gewöhnlich war er zu Hause nur mit sich und seinem Computer allein, um seine Texte zu schreiben. Seit kurzem erst lebte er im Süden von Duisburg, hatte aber hier noch keine engeren Bekanntschaften gemacht, geschweige denn Freunde gewonnen. Jetzt sonnte er sich innerlich in dem Gefühl, anerkannt und wichtig zu sein. Und da er sich trotz seiner zurückhaltenden Art gut zu artikulieren vermochte, entwickelte er in diesen Stunden der hübschen Kommissarin gegenüber ein ungeahntes Maß an Charme.
Bekanntlich geht die Liebe merkwürdige Wege, oft verkleidet sie sich in seltsamen Empfindungen; und oft maskieren sich seltsame Empfindungen als Liebe. Seitdem ihr Jugendfreund Henning sie mit ihrer Tochter Svenja hatte sitzen lassen, war ihr die Lust auf Männerbekanntschaften gründlich vergangen. Die Einarbeitung in ihre neue Position, Umzug, Einschulung von Svenja in einer Duisburger Tagesschule, - all das hätte ihr ohnehin kaum Zeit gelassen, einen neuen Partner kennen zu lernen. Stress gab es zwar immer noch genug, aber seit einigen Monaten geriet sie doch allmählich in etwas ruhigeres Fahrwasser. Vor allem lernte sie es, zu Hause abzuschalten von den harten Anforderungen ihres Kommissarinnen-Daseins. Aber mit dieser Fähigkeit zum Abschalten meldete sich erst versteckt, dann immer bohrender auch ein Gefühl von Einsamkeit.
Gewiss, da gab es unter den Männern in ihrer beruflichen Umgebung einige, die mal versuchsweise den Bagger angeworfen hatten; sie jedoch hatte es sich zum Prinzip gemacht, niemals ein Verhältnis im Kollegenkreis zu beginnen. Selbst bei engsten Mitarbeitern, wie ihrem Stellvertreter Petzold, wahrte sie Distanz mit der förmlichen Sie-Anrede.
Arnos Werben fiel daher zu dieser Zeit auf fruchtbaren Boden, zumal er sich geistreich, rücksichtsvoll und geduldig zeigte. Vielleicht fiel ihm das deshalb nicht schwer, weil er es durch die elterliche Erziehung gewohnt war, immer nur das zu tun, was man ihm vorgab. Das Reagieren lag ihm mehr als das Agieren. Marion empfand das als angenehme Zurückhaltung und deutete es schließlich als Indiz für seine ehrliche Empfindung. Was ihr wohl auffiel, war ein gewisser Mangel an Humor.
Von nun an trafen sie sich häufiger, verbrachten zusammen jede freie Minute, die Marion hatte. In seinem Beruf als freier Journalist konnte er sich seine Zeit weitgehend selber einteilen, und das war dieser Beziehung sehr förderlich. Als sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, spukten in ihrem Kopf gleich Zukunftsgedanken.
Wenn es auch nicht die große Liebe im Herzen war, alles andere schien so wunderbar zu passen: Arno könnte tagsüber zu Hause arbeiten und sich nebenbei Svenja widmen, wenn sie aus der Schule käme oder wenn sie selbst plötzlich zu einem Einsatz gerufen würde.
Bis jetzt konnte das Mädchen zwar zu den Wiedmeiers, dem netten Rentner-Ehepaar ausweichen, das unter ihnen wohnte und sich liebend gern um das Kind kümmerte. Aber das durfte kein Dauerzustand werden, zumal Svenja, seitdem der Vater bei Nacht und Nebel verschwand, immer einsilbiger wurde, bisher keine wirklichen Freundinnen hier in Duisburg gefunden hatte und in ihren schulischen Leistungen in letzter Zeit deutlich nachließ. Früher hatte Henning dem Kind hin und wieder mal eine bunte, lustige Postkarte geschickt. Nun aber kam nichts mehr von ihm, außer der monatlichen Alimentenzahlung. Zwei Briefe schrieb sie ihm noch, keine Antwort. Als auch zu Svenjas letztem Geburtstag nichts ankam, wurde dem Mädchen bewusst, dass es wirklich keinen Vater mehr hatte.
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