„Bei Verrückten darf man nicht nach Logik fragen”, meinte Petzold, doch ganz so einfach mochte Marion das nicht sehen. Es gab noch Wichtiges zu klären. Wem zum Beispiel hatte die schwere Limousine gehört, die in der Tatnacht in der Nähe des gräflichen Anwesens von Spaziergängern gesehen wurde? Zu wem gehörten die Abdrücke schmutziger Schuhe, die man im Schlafzimmer der Toten gesichert hatte? Marion liebte penibel gründliche Recherchen; dringender Tatverdacht gegen Markus bedeutete noch längst keinen Beweis.
Beim erneuten Studium der Berichte von Pathologie und Spurensicherung rief sie plötzlich erbost aus: „Was ist denn das wieder für eine Schlamperei!? – Hat der Täter das Messer mit der linken oder mit der rechten Hand geführt? Das gehört doch da hinein, verdammt noch mal!“ Petzold bekam den Auftrag, dies zu klären und festzustellen, ob Markus Links- oder Rechtshänder war. Er musste die Tatwaffe mehrmals anfassen und in ein Kissen stechen, - eine Probe fürs Theater, gaukelte man ihm vor. Arglos folgte der Mann dieser Aufforderung. Er sagte sogar von sich aus verwundert, das sei ja sein Messer und er wolle es zurück haben.
Als er seine Recherche beendet hatte, stöhnte Petzold verzweifelt: „Der Täter ist Linkshänder, und der Markus ist Rechtshänder. Jetzt fangen wir also von vorn an.“
„Im Gegenteil.“ Marion schien mit dieser Auskunft sehr zufrieden und schüttelte geheimnisvoll den Kopf. Denn sie war zwischenzeitlich keineswegs untätig gewesen, sondern hatte die gräfliche Familie noch einmal näher durchleuchtet, Verwandte, Bekannte und ehemaliges Hauspersonal ermittelt und möglichst sogleich befragt. Und dabei geriet sie auch an die alte Martha Sennwald, die früher im Schloss Hohenburghof bei Paderborn als Kinderfrau angestellt gewesen war und den kleinen behinderten Markus zu betreuen hatte. Zunächst wollte sie nicht mit der Sprache heraus, obwohl Marion ihr andeutete, dass sie vor Gericht später ohnehin aussagen müsse. Als sie jedoch erfuhr, dass Markus in Haft war unter dem Verdacht, seine eigene Mutter erstochen zu haben, da meinte sie erschüttert, nun käme ja doch alles ans Tageslicht und berichtete unter Tränen die ganze traurige Geschichte des Hauses Hohenburghof.
Dem verblüfften Petzold erklärte Marion: „Ich denke, der Fall liegt nun klar. Lassen wir den armen Markus frei. Den wahren Täter kassieren gerade unsere Kollegen in Paderborn ein. – Kommen Sie mit zum Chef, - der will von mir vorab eine Kurzinformation haben.“
„Ich höre”, sagte Dr. Sowetzko skeptisch, lehnte sich in seinen Sessel zurück und verschränkte die Arme. Dieser angeblichen Blitzaufklärung mochte er ohne nähere Erläuterung nicht trauen. Wegen des großen öffentlichen Interesses war auch Oberstaatsanwalt Dr. Kämmereit erschienen.
„Machen wir’s kurz”, sagte Marion, „ich hab’ nämlich heute Abend noch etwas vor. – Also, die gräfliche Sippe stammt aus Hohenburghof bei Paderborn, - inzwischen nicht unbedingt verarmter, aber doch sehr verlotterter Adel. – Die ermordete Gräfin Hohenburghof betrieb mit ihrem Bruder Andreas Inzest, was nicht ohne Folgen blieb. Vor etwa zwanzig Jahren wurde Markus geboren, mit einer schweren geistigen Behinderung. Um den Skandal zu vertuschen, heiratete die Gräfin einen Bürgerlichen, der die Vaterschaft für Markus übernehmen musste. Dafür setzte sie ihm testamentarisch eine Apanage aus. Außerdem durfte er als ihr Gatte ein höchst angenehmes Leben führen, - eine Rolle, in der er sich sehr schnell und perfekt einfand, - auch als man das Schloss verkaufte und in eine Villa hier nach Duisburg zog. Irgendwie erwarb er einen Grafentitel, gekauft oder auf der Kirmes geschossen, - ich weiß es nicht. Auf alle Fälle hatte er immer genug Material in Händen, die Gräfin unter Druck zu setzen.“
„Das ist doch nicht Ihr Ernst, Frau Zelenka!“, rief der Oberstaatsanwalt, bislang ein Freund des Grafen, empört dazwischen.
„Keine Sorge, es kommt noch besser”, erklärte Marion ungerührt. „Das adlige Ehepaar verbarg ihren schwachsinnigen Sohn Markus in großzügig ausgebauten Kellerräumen, wo er im Geheimen nur für seine optischen Experimente und seine Scheinwelt von Geistern und solchem Quatsch lebte. Niemand kümmerte sich um ihn, und keiner wusste auch, was er da unten so trieb. Dem honorigen Grafenpaar war es wohl am liebsten, wenn sie ihn nie zu Gesicht bekamen. Als es Markus gefiel, seine Experimente in den letzten Tagen an seiner Mutter auszuprobieren, um sie in Angst und Schrecken zu versetzen, nutzte Andreas, der Haupterbe, diese einmalige Gelegenheit, ans Vermögen seiner Schwester zu kommen, indem er sie mit einem Messer erstach, das Markus gehörte und auf dem dessen Fingerabdrücke waren. Dazu war er eiligst mit seinem auffälligen Auto in der Nacht von Paderborn nach Duisburg gekommen und nach der Tat wieder zurückgefahren. Der Verdacht sollte eindeutig auf Markus fallen. – Um das Ganze noch deutlicher wie die Tat eines Schwachsinnigen aussehen zu lassen, stach er zwei Stunden nach dem Mord noch viermal auf die Tote ein und präsentierte uns die Tatwaffe auf dem Nachttisch. Soviel freundliche Hinweise auf einmal machten mich gleich stutzig. Pech für den Mörder, dass er Linkshänder, Markus aber Rechtshänder ist.“
„Beweise bitte”, forderte Dr. Sowetzko, worauf ihm Marion erklärte, dass jenes Auto, das in der Mordnacht in der Nähe der Villa gesehen worden war, mit hoher Wahrscheinlichkeit Andreas gehöre. Andreas sei zudem hoch verschuldet und habe Drogenprobleme. Man werde jetzt noch Fußspuren vergleichen und sich auch seine Majestät, den Grafen, noch einmal vorknöpfen, nachdem der nun recht unsanft vom Thron gekullert sei.
„Das ist nur Restarbeit, reine Routine”, erklärte Marion. „An den Fakten wird sich nichts mehr ändern. Da wette ich um jeden Preis.“
„Ich wette nicht um Mörder. Und schon gar nicht mit Ihnen, Frau Zelenka! – Übrigens wurde mir zugetragen, dass Sie ganz allein dieses Geisterhaus aufgesucht und sich dort auf einen Zweikampf eingelassen haben. Wissen Sie nicht, dass dies ...“
Respektlos unterbrach Marion ihren Chef: „Alle meine Jungs stecken bis zur Halskrause in wichtiger Arbeit. Ich kann dort niemanden entbehren. Diesen Fall mussten wir so ganz nebenbei klären.“
Als Marion und Petzold gegangen waren, zündete sich Kriminalrat Dr. Sowetzko gemächlich eine Zigarre an, blies tief in Gedanken einige dicke blaue Wolken in den Raum und murmelte: „Nebenbei ... So sieht das also aus, wenn diese Frau etwas nebenbei löst.“ Den Oberstaatsanwalt blickte er dabei überlegen lächelnd und voller Stolz an, so als habe er die Geistergeschichte soeben höchst persönlich aufgeklärt.
Berufsmörder
Sie nannten sich stolz „Die Spürnasen“, jene lose Vereinigung von Krimiautoren, die schon etwas veröffentlicht hatten und solchen, die noch darauf hofften. Hin und wieder traf man sich an wechselnden Orten zu geselligem Beisammensein mit Erfahrungsaustausch über Verlage, Redaktionen und Autorenwettbewerben. Im Laufe der Zeit gesellten sich einige Journalisten hinzu, die auch Ambitionen zum perfekten Mord zeigten, - auf dem Papier natürlich. Einer von diesen war Arno Redderkamp, freier Journalist für politische Kommentare und Kultur. Einige Prosa-Werke hatte er zudem veröffentlicht; irgendwann sollte mal ein raffinierter Krimi folgen.
Die Spürnasen waren also Anfänger auf ihrem Gebiet, aber voller Phantasie und Elan. Leider mangelte es jedoch an nützlichen Kontakten zu einflussreichen Stellen, um die überschäumende Kreativität gedruckte Wirklichkeit werden zu lassen. In dieser Hinsicht hatte sich Arno hin und wieder nützlich hervorgetan, indem er zu Zeitungsredaktionen die eine und andere Kurzgeschichte vermittelte. Als einige Mitglieder beklagten, zu wenig Kenntnisse vom Polizei-Alltag und von realistischen Abläufen bei der Kripo zu haben, bot sich Arno an, seine Beziehungen spielen zu lassen, um für die Spürnasen eine Führung durchs Duisburger Polizeipräsidium zu bekommen.
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