Luise brauchte eine ganze Weile zum Nachdenken, ehe sie Peter übers Haar strich und sagte: „Verbrechen dieser Art geschehen so oft, nur weil Menschen einfach wegsehen. Wir wissen nicht, ob an der Sache was dran ist, - aber immerhin könnte es sein. Ich finde, wir sollten es der Polizei melden.“
Peter grübelte weiter nach und gab zu bedenken: „Andererseits – wenn der Pfarrer unschuldig und die Sache nur dummes Dorfgeschwätz ist ... Wir könnten den Mann ruinieren, wenn wir ihm in dieser Situation die Polizei auf den Hals hetzen. Ist das zu verantworten?“
„Auch nicht”, meinte Luise, ging ans Fenster und sah gedankenverloren in den Garten. „Also, wir schweigen und reihen uns somit unter die Wegseher ein.“
„In ein paar Tagen kommt doch Marion aus dem Urlaub. Wir sollten sie um Rat fragen”, riet Peter. „Allerdings, es ist weder ihr Ressort noch ist der Hunsrück ihre Diözese. Sie kann den Verdacht nur an ihre Kollegen von der örtlichen Polizei weiterleiten, und das läuft beinahe aufs Gleiche hinaus, als würden wir selbst Meldung machen. Nein, wir brauchen einfach weitere Informationen. Wir müssen Genaueres wissen.“
Schweigend aßen sie zu Abend. Jeder hing seinen Gedanken nach, in ihrer Fantasie geisterten scheußliche Bilder misshandelter Kinder herum. Endlich hatte Luise eine Idee: „Übermorgen ist doch ein Feiertag, und das Wetter scheint schön zu werden. Machen wir doch einen Ausflug in dieses Kaff und horchen wir uns da mal um. Ich wollte immer schon mal dein Stamm-Hotel kennen lernen. Wir müssen dort ja nicht übernachten. Fahren wir früh los, sind wir am Abend wieder zu Hause. Und vielleicht sehen wir dann etwas klarer, was wir zu tun haben.“
Peter war sofort einverstanden, ja er war geradezu erleichtert im Gefühl, nun in dieser Angelegenheit etwas aktiv anzupacken. –
Es war später Vormittag am Fronleichnamstag, als sie das Dorf erreichten. Peter parkte vor dem kleinen Gasthaus. Zu Fuß schlenderten sie an geschmückten Häusern vorbei zur Kirche in der Ortmitte. Pastor Nottebohm las in dem gut gefüllten Gotteshaus gerade eine Heilige Messe. Luise schlängelte sich nach vorn, um festzustellen, dass hier tatsächlich auch weibliche Messdiener agierten. Da mehr hier im Augenblick nicht zu erkunden war, verließen sie die Kirche wieder.
Draußen schien die Sonne prall vom Himmel. Es wurde warm, und Peter lud Luise zu einem Eis ein. „Unten an der Straße ist ein italienischer Eissalon. Vielleicht können wir die Leute dort ein wenig aushorchen.“
Aus dem Eisschlecken wurde nichts. Zwar stand an dem Haus noch in dicken Lettern „Eissalon Locarno“ geschrieben, doch waren die Fenster verhangen. Ein kleines Schild verwies darauf, dass hier jetzt eine Ballettschule Einzug gehalten hatte.
„Eine Ballettschule? Hier in diesem Kaff?“, wunderte sich Luise und sah sich das Schild genauer an: „Nur für Kinder bis zu vierzehn Jahren.“ Die Pendeltür war offen, trotz des Feiertages. Peter ging mutig voran, kam in einen kleinen Flur mit einem Tresen, über dem das Schild „Anmeldung“ baumelte.
Ein breitschultriger Mann erhob sich und fragte unwirsch, was er für sie tun könne. „Ich wollte meine Tochter anmelden”, entfuhr es Luise spontan, worauf der Mann den Kopf schüttelte und brummte, da sei vor einem halben Jahr nichts zu machen. Ob sie denn mal den Übungssaal sehen dürfe. Nein, der werde gerade renoviert. Welche Qualifikation denn die Übungsleiter hätten. Das wisse er nicht. Ob sich hier auf dem Lande denn so eine Schule rentiere? Man sei zufrieden. Ob man mit irgendwelchen kulturellen oder kirchlichen Organisationen zusammenarbeite. Der Mann kam hinter dem Tresen hervor, hielt in drohender Haltung die Tür auf und machte dazu eine eindeutige Handbewegung.
„Toll”, sagte Peter, als sie wieder auf die Straße traten. „Ein Rauswurf erster Klasse. Komm, wir gehen zu meinem Gasthof zum Mittagessen. Mal sehen, was man uns dort über diese merkwürdige Ballettschule erzählen wird.“ -
„Heute kann ich Ihnen nur einen Linseneintopf anbieten”, bedauerte die freundliche Wirtin, „an solchen Feiertagen ist die Küche eigentlich geschlossen.“ Peter und Luise waren die einzigen Gäste. Sie hatten nichts gegen einen deftigen Eintopf und lobten später das Gericht überschwänglich, um mit der Wirtin ins Gespräch zu kommen, die sehr gern und sehr viel redete, aber zunehmend einsilbiger wurde, als die Sprache auf die Ballettschule kam. Die Schule gäbe es seit einem halben Jahr, und da werde wohl gutes Geld verdient; denn die Betreiber seien nette Leute und hätten schon oft Geld gespendet für die leere Gemeindekasse, für die Feuerwehr und für die Renovierung der Polizeistation.
Donnerwetter! Müssen die in der alten Eisdiele ein Geld verdienen! schoss es Luise durch den Kopf.
„Gingen auch Spenden an die Kirche?“, fragte Peter. Das Gesicht der Wirtin verhärtete sich, sie zuckte kurz mit den Schultern und wollte sich entfernen. Peter aber rief ihr nach: „Gehen viele von den Messdienerinnen auch zur Ballettschule?“
„Das geht mich nichts an”, lautete die unwirsche Antwort. „Die kommen sowieso meist aus den Nachbarorten.“ Und damit verschwand sie in die Küche.
Luise warf Peter einen vielsagenden Blick zu. In diesem Augenblick kam von draußen mit hochrotem Kopf der Wirt herein, steuerte direkt auf Peter und Luise zu, quälte sich einen Gruß heraus und sagte: „Übernachten können Sie hier nicht; es ist leider alles belegt. Und einige Zimmer werden gerade renoviert.“
„Hier wird wohl zur Zeit überall renoviert”, bemerkte Luise ironisch. „Wir hatten gar nicht vor, bei Ihnen zu übernachten. Sie sind so festlich angezogen, als kämen Sie gerade aus der Kirche. Oder war es die Ballettschule? Oder vielleicht beides?“ -
„Das war heute unser zweiter Rauswurf”, bemerkte Peter auf der Straße. „Und der Gasthof hat soeben einen Stammgast verloren. Gehen wir nun sofort zur Polizei?“
Luise schüttelte den Kopf. „Hier zur Polizeistation, die mit ominösen Spenden gerade renoviert wurde? – Nein, ich denke, wir berichten das alles Marion, damit es in die richtigen Kanäle geleitet wird.“
Eine Woche später.
Hauptkommissarin Zelenka knallte den Hörer auf die Gabel, schlug mit der flachen Hand wütend auf den Tisch und rief dabei aus: „Das stinkt zum Himmel!“
Aufgeschreckt fragte ihr Kollege Petzold fürsorglich, ob er ein Fenster öffnen solle. Sie schüttelte den Kopf und ließ sich einen Termin geben bei Kriminalrat Dr. Sowetzko; denn sie wollte es nicht hinnehmen, von der örtlichen Polizeistelle eines kleinen Ortes im südlichen Hunsrück erst unverschämt lange hingehalten zu werden und dann nur nichtssagende Larifari-Antworten zu erhalten. „Können die da unten auf eine klare Frage nicht eine klare Antwort geben?! Die scheinen kein Deutsch zu verstehen?!“, fluchte sie. „Aber die können gern von mir Nachhilfeunterricht bekommen!“
Das hingegen sah der Kriminalrat bei der Audienz am anderen Morgen völlig anders. Er stellte zunächst fest, dass man sich hier in Duisburg befinde und Duisburg nicht im Hunsrück liege. Nach dieser kleinen Nachhilfe in Geographie polterte er dann so richtig los: „Sind Sie bei der Mordkommission nicht ausgelastet?! – Was jagen Sie wilden Gerüchten nach?! – Warum geben Sie Informationen – wenn Sie denn welche haben – nicht einfach nur an die zuständigen Stellen weiter?! – Was ist das wieder für eine verdammte Eigenmächtigkeit von Ihnen?! – Und dann legen Sie sich auch noch mit der Kirche an! – Wo kämen wir hin, wenn wir jeder Art von Gerüchten auf dieser Welt nachjagen, auch wenn die Quelle Ihre besten Freunde sind?! Bald kümmern wir uns noch um gestohlene Fahrräder in Honolulu! – Schluss jetzt mit dem Thema!“
Marion ging enttäuscht zur Tür, doch Dr. Sowetzko rief sie mahnend zurück: „Frau Zelenka, schauen Sie mich an. Der nächste Soloritt in dieser Sache steht Ihnen ja schon deutlich im Gesicht geschrieben!“ Er schüttelte voller Unverständnis den Kopf. Nein, diese Frau war manchmal ein Albtraum! „Also los, machen Sie mir einen Bericht mit allen notwendigen Angaben. Ich spreche meinen Kollegen in Koblenz an.“
Читать дальше