Mitten am Schutthang kommt mir vom Fuße des Berges ein sympathisch aussehender Mann entgegen der mich freundlich anspricht „ob ich denn schon eine Bleibe hätte“? In astreinem Englisch. Ich sage überrascht „No“ und er drückt mir eine Visitenkarte in die Hand. Schaut gut aus das Haus, weiter als zum nächsten Ort wollte ich sowieso nicht gehen. So verhandle ich noch preislich und frage ob sie auch Einzelzimmer haben um ihm schließlich zuzusagen. In freudiger Erwartung hatsche ich also tapfer Kilometer für Kilometer weiter in Richtung der angegebenen Adresse. Der Weg hat sich steinetechnisch inzwischen beruhigt, als ich drei Männer von hinten höre, die mit lauter Techno Musik unterwegs sind und den Camino 200 Meter vor und hinter sich beschallen. Ich ärgere mich. Die entweihen doch den Weg mit ihrem Krach, denke ich mir und bleibe stehen um sie vorbeizulassen. Als sie mich passieren und meinen völlig verdutzt-ärgerlichen Gesichtsausdruck bemerken grinst mich der eine an und meint: „walking music“. Aha. Danke für die Information. So ein Pfosten. Mir fällt überhaupt auf, dass ich heute den ganzen Tag über immer wieder Ärger und Aggressionen empfinde. Das ist neu. Hat vielleicht mit meinen unterdrückten Schmerzen zu tun?
Nach anspruchsvollen 20 Kilometern erreiche ich stöhnend und immer wieder spitze Schmerzensschreie ausstoßend die superschöne und erst zwei Jahre alte Herberge „El Jardin“. Die Werbung hat gestimmt. Ein kleines Paradies. Hier kehre ich gerne ein. Viel weiter hätte ich allerdings sowieso nicht gehen können. Autsch. Rein ins Einzelzimmer. Costa quanta nur 35,- inklusive Frühstück und einer Kleiderwäsche in einer respektablen Miele Waschmaschine. Gibt’s den sowas? Ich krieg von der Hausherrin zwar nur das Expressprogramm zugestanden, handle mir aber einen Extra Spülgang heraus.
Ich kann es kaum erwarten die frische Wäsche selber auf die Leine im Garten in die Sonne zu hängen. So duftend. Dann ganz gemütlich duschen. Und wer sitzt beim super leckeren Abendessen neben mir? Terry, der Typ aus dem Flugzeug, der mir mit seiner Frage „You go the camino?“ gut in Erinnerung geblieben ist. Gespräche am Tisch führe ich nach links auf Englisch, nach rechts und nach vorne auf Deutsch. Hier lerne ich Resi und Maria kennen. Anscheinend schreibt sie sich mit drei „M“, da sie sich mir mit „MMMaria!“ vorstellt. Sie meint wohl, wenn sie mir ihren Namen erstmalig in dieser Art und Weise vermittelt, dass ich ihn mir besser merke. Hat funktioniert. „Resi“ ist auch so außergewöhnlich genug. Zwei Frauen in reiferem Alter aus Bayern. Die Bayern mag ich sowieso. Humorvoll, erdig und unkompliziert. Wir sind uns auf Anhieb sympathisch.
Am Tisch vis-à-vis eine Frau, geschätzt in den Vierzigern, die mir einreden will, dass die „Faden-durch-die-Fußblase-ziehen-Methode“ eine tolle Sache wäre um weitergehen zu können. Duktus ist die ewige Wanderfrage des Blasenaufstechens oder nicht. Die Methode besagt, dass das Öffnen der Blase an zwei Punkten in Gehrichtung dafür sorgt, dass das Sekret über einen eingezogenen, dünnen Faden ablaufen kann. Mir hat schon damals nicht eingeleuchtet, wie die Sterilität im Wundgebiet gewahrt bleiben soll. Meinen Einwand der Gefahr einer Infektion wischte die Gute mit einem „das ist Blödsinn“ vom Tisch. Beide sagen wir uns, dass wir das gelernt hätten und daher wüssten was wir sagen. Keiner von uns möchte sich aber scheinbar outen was genau er von Beruf ist. In diesem Gespräch lerne ich, dass am Camino unheimlich viele selbsternannte Profis in Sachen Medizin unterwegs sind. Jeder mit seinen eigenen guten Tipps. Meine krankenpflegerischen Künste waren übrigens von Anderen am ganzen Weg kaum gebraucht worden. Für mich selber hab ich diese allerdings häufig nutzen können.
Egal wie, ich habe mich damals über diese, in meinen Augen rechthaberische und aggressive Frau geärgert. Sie hatte etwas total Negatives an sich, das mich klar werden ließ aufzupassen mit wem ich am Camino meine Zeit verbringe.
Als ich den Tag Revue passieren lasse, fällt mir auf, dass ich bei Dingen die mir begegnen innerlich besonders aufmache. Ich bin offener als sonst. Deshalb spüre ich intensiver. Lektion des Tages ist für mich auch, dass ich Schmerzen bemerken soll aber nicht darin verhaftet bleiben muss. Ich bin schon ein wenig stolz auf mich.
Eines muss ich aber, wie schon in Roncesvalles, feststellen. Diese Unterkunft mit all ihrem Überfluss ist für den Camino fast zu viel des Guten. Jedenfalls für mich. Bringt mich Verzicht nicht doch weiter als Komfort? Ich schüttle den Kopf über gerade geschriebenes…das muss ein neues Ich in mir sein…
29.9. Lorca
Heute habe ich das erste Mal keine Lust weiterzugehen. Ich bin müde, noch immer groggy und spüre meine Füße auf unangenehme Weise. Mein rechter Fuß entwickelt sich mit der Blase und der Achillessehnenreizung zu einer äußerst unangenehmen Sache. Letztgenannte krepitiert bereits.
Ich weiß, dass sich die Sehne in der Sehnenscheide durch Überlastung entzünden kann was wiederum ein reibendes Gefühl verursacht, was eben „krepitieren“ genannt wird. Ein bisschen wie ein Kolben im Zylinder eines Motors der ohne Schmierung auf und abfährt. Im schlimmsten Fall kann die Sehne reissen.
Natürlich gehe ich dann doch los. Anfangs denke ich noch auch diesen Schmerz gedanklich wegschalten zu können. Heute scheint aber er stärker. Ich schleppe mich humpelnd in eine Apotheke wo ich mir zwei Silikoneinlagen kaufe und diese reinstopfe. In die Schuhe. Ich erwarte mir durch die Anhebung der Ferse eine Entlastung der Sehne. Schuster gibt’s hier leider keinen der mir professionell helfen könnte. Es stellt sich heraus, dass die Gummidinger leider wenig Nutzen bringen. Ich beschließe noch ein paar Kilometer bis zum nächsten Dorf durchzuhalten. Zuhause würde ich auf einer Wanderung jetzt wahrscheinlich abbrechen. In`s Auto einsteigen und nach Hause zurückfahren.
Doch hier musst du weiter.
Dann passiert etwas Unerwartetes: Ich fange auf einmal zu Weinen an. Völlig unvermittelt. Aber nicht der Schmerzen wegen. Sondern bei dem Gedanken an meine Lieben zuhause. Aber nicht aus Trauer. Ich glaube irgendjemand denkt gerade intensiv an mich. Erstaunlicherweise sind für die nächsten Minuten die Schmerzen wie weggeblasen. So gehe ich heulend ein paar hundert Meter, ganz für mich alleine, durch eine wunderschöne Wein- und Ackerlandschaft. Wir Menschen sind miteinander verbunden. Egal wo und egal wann. Wer oder was hilft mir hier gerade weiter?
Mein Weg führt mich heute durch Obanos und durch Puente la Reina mit seiner berühmten Brücke über den Arga. Ein schönes Städtchen mit seiner uralt gepflasterten Hauptstraße, welche seit jeher Pilgerstraße war. Vorbei an der Kirche „Iglesia del Crucifijo“ mit ihrem ungewöhnlichen, faszinierendem Kruzifix in Y-Form. So was hab ich noch nicht gesehen.
Auch nicht, dass es Münzeinwürfe in der Kirche gibt die Lichtstrahler auslösen um bestimmte Bereich des Innenraums zu beleuchten. Das empfinde ich als Abzocke. Einen Euro, damit Sehenswürdigkeiten in einer Kirche angestrahlt werden?
Mit fast letzten Kräften schleppe ich mich auf die Stöcke gestützt nach Lorca in eine 4-Bett Zimmer Herberge (vor der Herberge gegenüber steht wieder Barfuß-Mann) wo ich Resi und Maria von gestern wiedertreffe. Wir essen gemeinsam Abend und erzählen uns kleine Geschichten aus unserem Leben. Mit am Tisch sitzt eine Stuttgarterin die ich noch öfter treffen sollte. Eine zierliche Frau mit dunklen Haaren und einer Mords Bronchitis. Bei jedem feuchten Husterer den sie loslässt überlege ich wieviel Keime jetzt wohl in meine Suppe geflogen sind. Auf meinen kritischen Blick hin meint sie: „Jo, soll isch misch leicht vor de Tür setzn?“ „Nein“ antworte ich verschämt. Soll hierbleiben. Ich will ja ein einfacherer Mann werden. Also muss ich lernen diese Dinge auszuhalten. Bringt die heisse Suppe die Keime um?
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