Übernachten möchte ich erst im übernächsten Dörfchen Sansol.
Weitere acht Kilometer bei strahlendem Sonnenschein über schöne, endlose Felder geht es dahin. Die Schmerzen pendeln regelmäßig zwischen Sohle, Blasen und Waden hin und her. Erstaunlich…ich gewöhne mich daran.
Um etwa 15:30 komme ich in Sansol an und erspare mir die Albergue, in der ich meine Mitpilgerin die Krankenschwester und ihren Begleiter erspähe, welche bereits ihre Betten bezogen haben. Wir grüßen uns, mehr Kontakt wollen beide Seiten sichtlich nicht. Die Antipathie ist sozusagen bilateral. Ich bekomme das letzte Privatzimmer an einem wunderschönen Ort namens „El Olive de Sansol“.
Ich freue mich tierisch, schmeiße meine gesamte Trikotage in die Waschmaschine und mich unter die Dusche. Das Wasser spült die diversen Pflaster von den Füssen und ich erschrecke. Am linken Fuß hat sich eine riesige Blase gebildet. Schaut aus als hätte ich ein Wachtelei unter der Haut. Analyse der Gesamtsituation ergibt: Hier mache ich einen Tag Pause. Ich muss. Der Füße wegen, meines Körpers wegen, wegen einfach allem. Wo wenn nicht hier? An diesem wunderbaren Ort. In diesem wunderbaren Haus.
In dessen wild bepflanztem Innenhof steht in der Mitte ein knorriger Olivenbaum. Am Platz daneben hänge ich meine gewaschenen Sachen auf die Wäscheständer und genieße den Rundumblick in`s Tal.
Mein Abendessen bekomme ich wiederum in der Herberge bei den anderen Pilgern. Ein ganz gutes Pilgermenü gibt’s auch hier. Die Tische sind voll. Nur ich sitze alleine an einem Tisch und freue mich darüber. Ich erlebe tagsüber so viele Eindrücke, dass ich gerne alles, inklusive Essen, alleine verdauen möchte. Damit das mit der Ruhe auch klappt, habe ich mir ein gespielt mürrisches Gesicht zurechtgelegt, welche ich aufsetze damit die anderen Bescheid wissen, dass ich momentan nicht an Kommunikation interessiert bin.
Am Abend kurz vor dem Schlafengehen, es ist etwa 22 Uhr, höre ich aus dem Nebenzimmer wie seit Stunden eine Frau ihrem Mann vorliest. In einer Lautstärke, dass ich fast jedes Wort verstehe. Wenn es nicht spanisch wäre. Es hört sich an als würde sie aus der Bibel lesen. Immer wieder fällt das Wörtchen „Camino“. Irgendwann habe ich von der Zwangsberieselung den Kanal voll da ich bei dem Krach nicht einschlafen kann. Ich gehe hinüber, klopfe an die Türe. Es wird still. Der Mann flüstert etwas seiner Frau etwas zu. Drinnen rumort es. Er findet sichtlich den Schlüssel nicht. Nach geschätzten drei Minuten Gezischel hinter der Tür, öffnet er diese. Ein ziemlich mitgenommen und verwirrt aussehender älterer Herr erscheint im Türrahmen. Haben die gebechert? Ich sage ihm, dass es ein bisschen laut ist wie seine Frau ihm so schön vorliest und dass ich darum bitte die Stimme etwas zu nivellieren. Er mault ein verständnisloses „OK“ und schließt zackig die Tür. Im vorbeispähen während unserer kurzen Unterhaltung erkenne ich, dass die zwei am Bett scheinbar direkt nebeneinander liegen während sie vorliest. Warum in aller Welt schreit sie dann so? Mich hat er ja auch verstanden. Somit war die Lesestunde beendet. Darum hab ich zwar nicht gebeten, dagegen habe ich allerdings auch nichts.
2.10. Sansol
Ich wache auf, es ist schon hell und ich bin traurig. Tränen rinnen. Ich weiß nicht genau warum. Möglicherweise liegt es daran, dass es der erste Tag ist an dem ich nicht gehe, nicht mehr auf dem Weg bin. Durch das Fenster sehe ich wie Pilger bereits in`s nächstgelegene Torres del Rio einwandern. Ich bin allein und fühle mich auch so. „Weitergehen“ schreit etwas in mir!
Hat mich dieses neue Leben, das Pilgern schon so stark erfasst?
Gedanken an zuhause erscheinen. Sie machen mich traurig. War die Trennung von meiner Freundin die richtige Entscheidung? Ich fühle mich unwohl. Was ist nur los? In der Nacht habe ich von einer riesengroßen Abschlussprüfung geträumt. 500 Fragen in vier Stunden sollten wir als Krankenpflegeschüler beantworten. Es wird sehr schwierig werden, wird uns vorher noch ermutigend eingetrichtert.
Maria und Rosi kommen mir in den Sinn. Werde ich sie vielleicht nie wiedersehen? Meine ungemütlichen Gedanken korrelieren mit meinem unangenehmen Gefühl. Ist dieser Tag für mich vielleicht das erste Mal ganz anders innehalten? Was ist eigentlich mit spirituellen Erlebnissen oder meinem Wunsch Gott näher zu kommen? Ich merke nichts davon. Kein Wunder, bin ich doch die ganzen Tage über mit meinen Erlebnissen beschäftigt, die nur im Aussen stattzufinden scheinen. Einer Erlebnisreise ähnlich, doch war das der Grund meines Hierseins?
Trotz dieser deutlichen Verstimmung spüre ich regelrecht wie es meinem Körper gut tut einen Tag auszusetzen.
Ich kann schon fast wieder normal im Haus auf und abgehen. In den weichen Plastiklatschen wohlgemerkt. Ich mache ein Foto der großen Blase und von Torres del Rio. Am Nachmittag schlafe ich, nach den 12 Stunden in der Nacht, noch einmal 2 Stunden. Mein Körper braucht viel Ruhe um sich zu reparieren. Um 20 Uhr wird es dunkel. Zuvor darf ich noch einen wunderschönen Sonnenuntergang beobachten. Ich stelle mir den Wecker auf 6:30. Morgen will ich unbedingt weitergehen!
3.10. Logrono
Und ich bin weitergegangen. Um 8 Uhr raus aus dem Haus. Fast ein bisschen wehmütig diesen tollen Ort verlassen zu müssen, mache ich mich auf das in den letzten zwei Tagen durchs Fenster beobachtete Torres del Rio zu durchqueren. Die Lust zu gehen ist grösser als der Schmerz wieder einmal alles Schöne hinter sich zu lassen. Loslassen.
Der Weg nach Viana ist ein dauerndes Auf und Ab. Im wahrsten Sinne des Wortes. Schotterpisten, Pfade und Beton im Wechsel. Rauf und runter im zehn Minuten Takt. Schwierig, aber wenigstens abwechslungsreich zu gehen. Ich lerne mich sehr schnell an verschiedene Untergründe und Niveauveränderungen anzupassen. Meine Stöcke geben mir dabei Halt und Sicherheit. Der Tag Erholung hat mir äußerst gutgetan. Ich gehe wieder schmerzfrei! Gibt`s denn sowas nach nur einem Tag Pause? Juhuu! Was für ein Geschenk.
Viana ist eine schöne Stadt, doch ich bin so gut im Fluss, dass ich an allen Sehenswürdigkeiten vorbeigehe. Nur eine kurze Mittagspause für Speis und Trank lege ich ein, um sofort danach weiterzugehen.
Ich komme immer mehr in den Flow des Pilgerns was Aufstehen in der Früh, Tempo, Wollen, Schmerzen aushalten und Kilometerreichweite angeht. Das fühlt sich gut an und muss eben erst gelernt werden.
Irgendwann, später am Tag komme ich an den Grenzstein der den Bezirk Navarra von der berühmten Rioja trennt. Jetzt ist es nicht mehr weit bis Logrono. 2,6 Kilometer auf Asphalt schreibt der Reiseführer. Als die Stadt aus dem Dunst auftaucht mache ich ein Foto. Langsam geht mir die Puste aus. Allerdings nicht lungentechnisch. Eher mental.
Eine große Brücke führt über den Rio Ebro. Wieder einmal habe ich kein Zimmer gebucht und keine Ahnung wo ich einkehren soll. Ich gehe in Richtung Innenstadt wo ich schnell bemerke, dass ich am liebsten die Stadt gleich wieder verlassen möchte. Groß. Stadt. Flair. Vorbei mit Ruhe und Natur. Bin ich froh, dass ich den vergangenen Pausentag nicht hier machen musste. Ich spaziere an einer Herberge namens „Albergue Logrono“ vorbei. Die schaut auf den in einem Schaukasten befestigten Fotos ganz nett aus.
4 Betten pro Zimmer sind moderat und auszuhalten. Zehn Euro für die Nacht erst recht. Dann eine menschliche Ernüchterung. Im Zimmer angekommen quatscht mich eine Ungarin (so hat sie sich bei der Rezeption vorgestellt), die eigentlich eine Estin (so hat sie sich mir vorgestellt) ist an. Warum ich denn so viele Tage bis hierher gebraucht habe? Ob was passiert sei? Sie ist erst vor 6 Tagen in St. Jean gestartet. An und für sich eine normale Frage.
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