Die Bäume wichen zurück, als sie sich ihrem Ziel, dem Bergsee, näherte. In warmen Sommernächten ritten die Kinder zum Schwimmen hierher. Zu dieser Tageszeit jedoch war es einsam.
Der See, gespeist von zahllosen Bächen, lag unterhalb von steilen Felshängen und war umgeben von Wald, Gräsern und Schilf. Es gab Klippen, von denen man sich mit waghalsigen Sprüngen ins Wasser stürzen konnte, und einen Wasserfall, hinter dem eine Grotte lag.
Marianas Lieblingsplatz waren die Felsblöcke am Ufer. Dort sonnte sie sich gerne. Falls es zu warm wurde, konnte man sich in die Schatten von hohen Fichten zurückziehen. Häufig beobachtete sie Fische, fette Barsche, Hechte und Forellen, die sich in dem klaren Wasser tummelten. Enten dümpelten friedlich und Reiher stakten im Wasser nahe des Ufers umher. In der Einsamkeit des Tages konnte man vor sich hinstarren und in Ruhe nachdenken.
So überraschte es sie, dass sie wider Erwarten nicht allein war. An den Felsblöcken graste ein Pferd, ein prächtiges Tier, dessen schwarzes Fell in der Sonne glänzte. Es trug ein Halfter aus Leder, hob den Kopf und schaute ihnen entgegen. Winterstern schnaubte, die Ohren aufmerksam aufgerichtet. Sichtlich uninteressiert an ihnen wandte sich der Rappe wieder dem Gras zu.
Mariana zügelte die Stute und legte die Hand an den Schwertknauf.
Angst hatte sie keine. Falls nötig, konnte sie sich verteidigen. Es handelte sich wahrscheinlich um einen einzelnen Reisenden, einen Vampir, der sich vor der Sonne versteckte. Ein Mensch oder ein Ewiger hätte sich längst zu erkennen gegeben, schon allein aus Sorge, dass sie das Pferd stehlen könnte. An Verstecken gab es an diesem Teil des Seeufers zwei Höhlen in den Klippen. Eine war niedrig, sodass man in ihr nur sitzen konnte, die andere groß genug, um bequemen Unterschlupf zu bieten. Sie lenkte Winterstern zu den Felsen, die Umgebung aufmerksam beobachtend.
»Sei gegrüßt.« Die Stimme des Mannes ließ sie hochfahren.
Sie hatte richtig gedacht. Es war ein Vampir, der da im Eingang der größeren Höhle saß, gerade weit genug zurückgezogen, um die Sonnenstrahlen zu meiden. Er streckte die Beine lässig von sich und hielt einen Grashalm im Mund. Als er sie freundlich angrinste, erkannte sie seine Fangzähne. »Keine Angst, ich beiße nicht.«
Für einen Vampir war das eine fragwürdige Aussage. »Ich auch nicht«, gab sie zurück. »Aber ich benutze gern mein Schwert.«
Der Mann lachte und nahm den Grashalm aus dem Mund. Er hatte ein kantiges Gesicht und dunkle Augen, die einen interessanten Gegensatz zu seinem hellen Haar bildeten, das in einem kurzen Pferdeschwanz nach hinten gebunden war. Bartstoppeln gaben ihm etwas Verwegenes. Bekleidet war er mit einer abgenutzten, aber gut in Schuss gehaltenen Lederrüstung und einem schwarzen Umhang. Also ein Krieger und kein Fürst, den sie mit ersuchter Höflichkeit behandeln und mit ›Ihr‹ hätte titulieren müssen. Neben ihm auf dem Boden lagen ein Sattel, Satteltaschen, die zur Rüstung gehörenden schweren Lederhandschuhe, eine Decke, ein Schwert in seiner Scheide und der Rest eines Bratens auf einem Blechteller.
»Dann werde ich mich hüten, dich zu verärgern. Du bist eine Sonnenwandlerin, richtig?«
»Das bin ich.« Mariana nahm die Hand nicht vom Schwertknauf. Möglich, dass der Mann doch nicht allein war. »Was tust du hier? Woher kommst du?«
»Ich hatte gehofft, heute Nacht noch Tyr zu erreichen, habe mich aber verschätzt, was die Entfernung angeht. Der Morgen hat mich hier überrascht. Als Vampir der alten Schule muss ich mich vor der Sonne verstecken.«
»Tyr ist nicht weit entfernt.« Sie musterte ihn. Er schien unbekümmert zu sein. Sein Schwert lag unbeachtet da. Entweder hielt er sie für ungefährlich oder er war in der Lage, einer Bedrohung schnell genug zu begegnen, ohne dass er die Hand am Schwertknauf haben musste. Sie vermutete Letzteres. Der Mann hatte unzählige Narben an Händen und Unterarmen und der Ausdruck in seinen Augen, eine zeitlose Abgeklärtheit, sagte ihr, dass er viel gesehen haben musste. Wie dem auch sein mochte, solange sie in der Sonne blieb, konnte er ihr nichts anhaben.
»Kommst du von da?«
»Ja.«
»Es ist wohl viel los, oder? Jetzt, wo Maksim D'Aryun abdankt?«
Ihr unwillkürlicher Seufzer entlockte ihm ein Lachen.
»Ja«, wiederholte sie. »Es herrscht ein ziemlicher Trubel. Ein Grund, weswegen ich hierher geritten bin. Um dem ganzen Getümmel zu entkommen.«
»Und jetzt verderbe ich dir den Ausflug.«
»Ich kann mich ja da vorne an den Felsen niederlassen. Da würde ich dich weder hören noch sehen. Folgen kannst du mir nicht, ohne in der Sonne zu verbrennen.«
»Auch wieder wahr.«
»Wo kommst du her?«
»Aus dem Süden des Gebirges. Ich bin eine Zeit lang beim Stamm der Daksina gewesen.«
»Der Süden. Ich bin noch nie dort gewesen. Ist es anders als bei uns?«
»Es ist wärmer und trockener. Mir gefällt es hier, ehrlich gesagt, besser.«
»Was ist hier besser als im Süden?«
»Hier gibt es Wälder und Seen. Im Süden ist es karg. Bäume wachsen kaum. Auch sind die Berge nicht so hoch wie hier.«
»Was hast du im Süden gemacht? Bist du ein Krieger der Daksina?« Sie hatte von dem Stamm gehört. Die Daksina betrieben Viehzucht und blieben weitestgehend unter sich.
»Nein, sie haben mich angeheuert, um ihr Banditenproblem zu lösen.«
»Ihr Banditenproblem?«
»Viehdiebe. Sie haben die Daksina immer wieder überfallen und ihnen ihre Kühe und Schafe gestohlen. Der Stamm hat keine Krieger und da haben sie mich gebeten, ihnen zu helfen.«
»Und, hast du das?« Ihre Frage war als die Herausforderung gemeint, nach der sie klang. Da war etwas an ihm, dass sie dazu brachte, diesen Tonfall anzuschlagen. Sie konnte nicht den Finger darauflegen, was es war. War es seine Lässigkeit, die ihr suggerierte, kein Gegner für ihn zu sein?
»Ja.«
Die knappe Antwort zeigte, dass ihre Einschätzung richtig gewesen war. Man durfte sich von dem unbekümmerten Äußeren dieses Vampirkriegers nicht täuschen lassen. »Und jetzt reist du weiter durch das Qanicengebirge.«
Er grinste. »Ich dachte, ich schaue mich mal im Norden um. Aber vielleicht suche ich auch das Schwert der Seherin.«
Mariana legte den Kopf schief und betrachtete ihn. Er schien sie nicht für voll zu nehmen, wenn er schon mit Geschichten für Kinder ankam. Das Märchen erzählte von einer Seherin, die ein magisches Schwert besaß, mit dem man jeden Gegner besiegte. Krieger begaben sich auf lange Wanderungen, an deren Ende sie die Seherin fanden und um das Schwert baten. Natürlich sah die Seherin voraus, dass die Krieger das Schwert zur eigenen Bereicherung nutzen würden und verweigerte seine Herausgabe. Ein Krieger wurde darüber so wütend, dass er ihr den Kopf abschlug. Seitdem kehrte keiner derjenigen, die auf die Suche nach dem Schwert gingen, jemals zu seinem Stamm zurück. Es hieß, dass der Geist der Seherin sie zu ihren Sklaven gemacht habe. »Dann pass bloß auf, dass du nicht verschwindest.«
»Noch bin ich ja da.« Er schob sich den Grashalm wieder zwischen die Zähne. »Aber danke für deine Anteilnahme.«
»Sehr gerne«, entgegnete sie trocken. »Und wohin gehst du, wenn du auf Tyr gewesen bist?«
»Wohin der Wind mich treibt. Was machst du auf Tyr?«
»Ich bin eine Kriegerin.« Was war das für ein Mann? Er reiste allein und schien keinem Fürsten verpflichtet zu sein. Er war unbekümmert, zugleich aber ein gestandener Krieger, der seinen Anteil an Tod und Grauen gesehen haben musste. Ein Mann der Gegensätze, den sie interessant fand.
»Aber eine junge Kriegerin.«
Da war es wieder. Er nahm sie nicht für voll. Es war die selbstgefällige Einstellung der erfahrenen Krieger, mit der sie auf Tyr zu kämpfen hatte. Das brauchte sie sich an ihrem Rückzugsort, dem See, nicht auch noch anzuhören. »Das gebe ich zu, ja.«
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