Sie war dankbar, dass Arik einen Vampirbiss wohl nie erleben würde. Nach seiner Geburt hatten alle zunächst gedacht, er sei ein Mensch. Aber Goj, der Heiler der Vampire, entnahm ihm einen Tropfen Blut und mischte es mit ein wenig von seinem eigenen. Das Gemisch hatte sich zu Staub verwandelt. Ihr Sohn war damit erwiesenermaßen ein Ewiger. Ein gewaltsames Erlebnis wie einen Vampirbiss hätte Arik schwer verkraftet. Zwar ähnelten er und Mariana sich äußerlich – sie hatten Tarans Augenfarbe, ein tiefes Blau, und Damiens schwarzes Haar geerbt –, aber im Gegensatz zu seiner Schwester war er sehr ernst und dachte vielleicht ein wenig zu viel nach. Ihrer Meinung nach war er ein Gelehrter, der in einem Kreis Gleichgesinnter grübelnd neue Methoden ersann. Aber das musste er für sich herausfinden.
»Natürlich!«, sagte sie. »Lies dir die Lebensberichte durch. Du wirst viel über den Tod und über Verbrechen lesen. Aber auch über Verzweiflung und Schuldgefühle.«
Wie bei Damiens Bruder Zyrian. Er hatte sich mithilfe ihres Bluts getötet, weil er glaubte, die Schuld am Tode seines Vaters zu haben. Was Unsinn gewesen war. Zyrian hatte nicht das sein dürfen, was er wollte, ein Dichter. Sein Vater wollte aus ihm einen Krieger machen und damit hatte das Verhängnis, das zu Zyrians Tod führte, angefangen. Raidens Welt, in der Zyrian kein Dichter hatte sein dürfen, wäre nicht Ariks Welt gewesen.
Sie riss sich aus diesen düsteren Vorstellungen und erhob sich. Raiden war tot. Jeder Gedanke an ihn war ein verschwendeter Gedanke. »Wir werden die Einzelheiten der Reise später besprechen. Nun komm, Arik. Wir müssen die heutigen Gäste begrüßen.«
So standen sie kurze Zeit später mit Maksim, Damien und Mariana in der Halle, um die Fürsten willkommen zu heißen. Rodica hatte sich entschuldigt, die Vorbereitungen der Festlichkeiten nahmen sie zu sehr in Beschlag. Arik und Mariana hätten es ihr gerne gleichgetan und Taran, wenn sie ehrlich war, auch. Aber die Höflichkeit gebot es, beim Empfang der Fürsten anwesend zu sein.
Maksim und Damien begrüßten bereits die Fürstin Shazad, nachdem sie Hroar Gisher, eines der zukünftigen Ratsmitglieder, willkommen geheißen hatten. Gisher, der sein langes Haar offen trug und sich in schwarze Lederhosen und einem schwarzen Seidenhemd gekleidet hatte, verbeugte sich vor Taran. Sie kannte ihn aus den Anfangszeiten auf Tyr und teilte Damiens Meinung über ihn, was aber kein Grund war, ihn unhöflich zu behandeln. »Herzlich willkommen, Hroar«, sagte sie. »Ich freue mich, dich auf Tyr begrüßen zu dürfen. Darf ich dir unsere Tochter Mariana und unseren Sohn Arik vorstellen?«
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Taran.« Sein Blick wanderte zu Mariana und ruhte länger auf ihr, als schicklich gewesen wäre. »Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, Mariana.« Wieder eine Verbeugung.
»Herzlich willkommen, Hroar. Ich freue mich ebenfalls.« Mariana lächelte gezwungen. Taran spürte das Unbehagen, das Gisher ihr durch sein Anstarren verursachte. Ihre Tochter musste noch lernen, mit den Gishers dieser Welt umzugehen.
Hroar lächelte und fixierte Mariana diesen Moment zu lang, dann stellte er sich nach Ariks Begrüßung zu seinen Gefolgsleuten und sah zu ihr herüber, bis die Bediensteten ihn baten, ihnen zu den Gemächern zu folgen.
»Fürstin Shazad.« Tarans Freude war dieses Mal aufrichtig. Sie mochte die Vampirin, die einfache schwarze Gewänder bevorzugte, und fühlte mit ihr. Ihr ältester Sohn war vor noch gar nicht langer Zeit ums Leben gekommen. »Ich freue mich, Euch auf Tyr begrüßen zu dürfen.«
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Fürstin Tyr. Darf ich Euch meinen Sohn und Erben Jesko vorstellen?«
Neben ihr versteifte sich Mariana. Interessant. Jesko also. Mariana hatte Zeit am Hofe der Fürstin verbracht. Nach ihrer Rückkehr war sie zurückhaltender und reifer erschienen. Sie hatte sich ihr nicht anvertraut, aber Taran hatte eine unglückliche erste Liebe als Grund für ihr verändertes Verhalten vermutet.
Nun schien es, als habe dieser Jesko damit zu tun. Verwunderlich wäre das nicht. Er war ein hochgewachsener und schlanker Krieger, nicht so massig und breitschultrig wie Damien oder Milo. Sein rötliches Haar war kurz geschoren und sein Lächeln charmant. Taran vermutete, dass er dieses Lächeln wohl recht geschickt einzusetzen wusste. Sie hob sich ein Urteil darüber, ob sie ihn leiden mochte oder nicht, für später auf.
»Herzlich willkommen, Jesko.« Sie deutete auf Mariana und Arik. »Ihr werdet Mariana noch kennen. Und das ist unser Sohn Arik.«
»Ich danke Euch für Euer Willkommen, Fürstin Tyr.« Er verneigte sich vor ihr.
Mariana reckte ihr Kinn. Ihr Willkommen für Jesko klang freundlich, aber kühl. Der Krieger verneigte sich, lächelte und ging zu Arik.
Das sah wirklich nach einem unglücklichen Liebesverhältnis aus. Für Mariana würde es schwer werden, solange Jesko sich auf Tyr aufhielt, doch Taran vertraute darauf, dass ihre Tochter die Situation meisterte. Nichtsdestotrotz musste sie ein Auge auf sie haben, schon allein wegen Gishers allzu offenkundigem Interesse. Selbst Damien, der diese Dinge für gewöhnlich nicht bemerkte, hatte gesehen, wie Gisher Mariana anstarrte und es nur knapp geschafft, seine Miene reglos zu halten.
Taran wandte sich dem nächsten Gast zu. »Herzlich willkommen, Fürst Darah. Ich freue mich, Euch auf Tyr begrüßen zu dürfen.«
Jesko wiederzusehen schmerzte. Das überraschte sie. Immerhin waren seit ihren gemeinsamen Nächten sechs Winter vergangen, in denen sie kaum mehr einen Gedanken an ihn verschwendet hatte. Sie hatte gedacht, sie sei über ihn hinweg. Aber dem war wohl nicht so. Bei der Begrüßung hatte sie sich nichts anmerken lassen und Jesko gegrüßt wie einen entfernten Bekannten. Das Zusammentreffen mit ihm war weitaus weniger peinlich gewesen als befürchtet.
Mehr als peinlich war ihr allerdings, wie Hroar Gisher sie beim folgenden Morgenmahl von seinem Platz an der Tafel aus anstarrte. Er hatte keine Gefährtin und sie ging jede Wette ein, dass er sich überlegte, welche strategischen Vorteile ihm die Tochter des Herrschers als Gefährtin brachte. Gisher beäugte den leeren Platz an ihrer Seite. Sie sandte ein Stoßgebet zu den dunklen Göttern, dass er nicht auf die Idee kam, sich dort hinzusetzen.
Jesko betrat mit seiner Mutter die Halle. In einem prächtigen Wams aus roter und blauer Seide, einem weißen Hemd und schwarzen Hosen sah er umwerfend aus. Er blickte sich suchend um, lächelte strahlend und steuerte auf sie zu. Sie betete, dass Gisher sich doch neben sie setzen möge. Er war eindeutig das kleinere Übel.
Jemand plumpste auf den freien Platz und fragte: »Ich darf doch, oder?«
Milo.
Jesko runzelte die Stirn und gesellte sich zu seiner Mutter. Hroar Gisher betrachtete Milo mit zusammengezogenen Augenbrauen. Sie hingegen wäre dem Krieger am liebsten um den Hals gefallen. Ihr erleichtertes Lächeln sagte wohl etwas in dieser Richtung aus, denn Milo meinte: »Ich will Gisher seine Beute entreißen.«
Sie lachte. »Beute?«
»Du hast Eindruck auf ihn gemacht. Also, wenn du das Mahl mit ihm verbringen möchtest.« Er machte Anstalten aufzustehen.
»Untersteh’ dich!«, zischte sie.
Ein zufriedenes Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Er setzte sich bequemer hin. »Dein Wunsch ist mir Befehl. Gisher wische ich gern eins aus.«
»Du magst ihn nicht besonders?«
»Genauso wenig, wie Damien ihn mag, auch wenn ich verstehe, warum er ihn in den Rat geholt hat.« Er zuckte mit den Schultern. »Gisher ist stets auf seinen Vorteil bedacht, das muss man wissen, wenn man mit ihm zu tun hat. Er ändert seine Meinung, wie es ihm nützt.«
»Vater meint, dass sein strategisches Verständnis dem Rat helfen würde.«
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