»Ja, das bin ich.« Die Stimme ihres Vaters klang ergriffen.
»Hast du diesen Entschluss aus eigenem und freiem Willen gefasst?«
»Ja, das habe ich.«
»So sei es.« Fürst Njastar winkte Milo heran. Der hielt ein Kissen aus dem gleichen blutroten Samt wie Njastars Robe, auf dem die Insignien der Macht lagen, der Stab, die Kette und der Ring des Herrschers.
Seit Äonen verliehen die Insignien ihrem Besitzer das Recht, über die Stämme zu herrschen. Der Ring aus Silber symbolisierte die Verbundenheit des Herrschers mit den Stämmen, die Kette aus silbernen Gliedern, zwischen denen Diamanten funkelten, den Zusammenhalt der Stämme, für den er verantwortlich war. Der Stab, aus vergoldetem mit Edelsteinen verziertem Holz, das der Sage nach von einem tausende Winter alten Baum stammte, gab ihm die Macht über das Qanicengebirge. Verlor der Herrscher die Insignien oder wurden sie ihm gewaltsam abgenommen, ging er der Herrschaft verlustig. Sobald ihr Vater den Schwur des Herrschers geleistet hatte, würde Milo sie unter Fürst Njastars Aufsicht in dem schweren Schrank einschließen, in dem sie seit jeher aufbewahrt wurden.
Der Fürst nahm die Silberkette. Ihr Vater senkte den Kopf, damit er sie ihm umlegen konnte. Dann setzte ihm Njastar den Ring auf den kleinen Finger der rechten Hand. Schließlich präsentierte er ihm den Stab mit der Frage: »Damien Tyr, nimmst du die Insignien der Macht an?«
»Ich nehme die Insignien der Macht an«, sagte ihr Vater feierlich und ergriff den Stab.
»Knie nun nieder.«
Er gehorchte und legte den Schwur des Herrschers ab, versprach, den Stämmen zu dienen, ihr Wohl über das seine zu setzen und alle Gefahren von ihnen abzuwenden. Daraufhin legte ihm der Fürst beide Hände aufs Haupt und sagte: »Damien Tyr, ich ernenne dich zum Herrscher über die Stämme. Möge deine Herrschaft gerecht und segensreich sein.«
Jubel und Hochrufe brachen aus. Maksim umarmte ihren Vater und schlug ihm auf den Rücken. Mariana ertappte sich dabei, wie sie ergriffen lächelte.
Rodica wischte sich die Tränen weg.
»Alles in Ordnung?«, fragte Mariana besorgt.
»Ja, Liebes.« Ihre Großmutter lachte verlegen. »Ich … es hat mich überwältigt, dass Maksim all das für mich aufgibt.«
»Er liebt dich. Du bist ihm wichtiger als alles andere.«
Ihr Vater und Maksim kamen an den Tisch und rissen jeden von ihnen in eine Umarmung. Die Räte versammelten sich um sie und gratulierten, bis Vater ein Einsehen mit den hungrigen Gästen hatte und das Mahl unter Jubelrufen eröffnete. Die Spielleute, die mit ihren Flöten, Zithern und Fiedeln in einer Ecke des Hofs versammelt waren, spielten auf.
Mariana genoss das Mahl. Die Stimmung war gelöst, es wurde gescherzt und gelacht. Das Wildbret und der Wein schmeckten hervorragend. Ihre Mutter und sie vergnügten sich damit, die Kleider der Frauen zu betrachten und die Art der verwendeten Seide zu erraten. Arik und Alek Nitshav, einer der von Damien neu ernannten Räte, steckten die Köpfe zusammen. Von dem, was sie hören konnte, ging es um die Rechtsprechung beim Stamm der Nitshav. Neben ihr sprachen Damien und Maksim über die letzte Ratssitzung. Rodica lachte über einen von Milos Scherzen. Er hatte sich neben sie gesetzt, nachdem die Insignien weggeschlossen waren.
Fast bedauerte sie es, als das Mahl beendet war und die letzten Essbretter und Becher weggeräumt wurden. Der nächste Festakt stand an. Vor den Toren der Burg hatte man einen mehrere Mann hohen Stapel aus Hölzern, Reisig und Strauchschnitt aufgeschichtet, um den sich alle versammelten.
Ihr Vater hob die Fackel, die ihm ein Knecht in die Hand gedrückt hatte, entzündete den Stapel und läutete das Zeitalter seiner Herrschaft ein. Die Flammen fraßen sich rasend schnell durch das trockene Holz und schlugen bald oben heraus. Die Zuschauer jubelten.
»Ein gutes Omen für die Herrschaft deines Vaters, wenn das Feuer den Holzstoß vollkommen vernichtet«, sagte jemand hinter ihr. Jesko.
Mariana holte tief Atem. »Das ist es.« Sie freute sich, dass ihre Stimme ruhig klang. Sich ihrer Gastgeberpflichten besinnend, drehte sie sich zu ihm um. Er lächelte das charmante Lächeln, das sie einmal hatte glauben lassen, er liebte sie.
»Es ist ein rauschendes Fest«, sagte er. »Die Zeremonie war sehr gelungen.«
»Ja, es ist schön für Vater, dass alles so gut läuft. Gefällt es deiner Mutter und dir?«
»Sehr.« Jesko warf einen Blick auf die Menge, die um sie stand. Kinder drängten sich durch die Zuschauer und versuchten, dem Feuer so nah wie möglich zu kommen. Krieger, die dem Wein kräftig zugesprochen hatten, grölten. Einer von ihnen war gestolpert und beinahe in die Flammen gefallen. »Mariana, ich glaube, wir sollten reden. Wegen dem, was damals passiert ist.«
»Ich wüsste nicht, was es da zu reden gibt.« Noch einmal würde sie sich von ihm nicht blenden lassen.
»Es … können wir zurück in den Hof gehen? Nur kurz? Die vielen Leute.«
Sie seufzte. Es ließ sich nicht vermeiden, dass sie sprechen mussten. Also wieso nicht das Unangenehme hinter sich bringen? »Wir gehen in die Halle.« Sobald das Feuer abgebrannt war, würde man dort mit Wein und Met anstoßen. Sie wäre nicht lange mit ihm allein. Er folgte ihr widerspruchslos. In der Halle füllten die Bediensteten zahllose Becher und beachteten sie nicht.
»Also?« Sie trat an den Kamin, in dem ein Feuer knisterte.
»Ich will mich bei dir entschuldigen.«
»Bitte?«
»Ich … ich habe mich damals abscheulich dir gegenüber verhalten. Es ist durch eine Entschuldigung vielleicht nicht gutzumachen, aber ich will es trotzdem. Mich entschuldigen.«
»Woher kommt dieser Sinneswandel? Und wieso jetzt?«, fragte sie, nicht bemüht, den spöttischen Unterton in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Das ist sechs Winter her, Jesko.«
Er sah zu Boden. »Du hast recht. Vielleicht ist es zu spät dafür. Aber … seit dem Tod meines Bruders habe ich viel nachgedacht. Du weißt, wie ich damals war. Ich hatte keine Verantwortung und kein Ziel, lebte als Krieger in den Tag hinein. Suchte das Vergnügen. Und dachte wirklich, dass das ein erstrebenswertes Leben ist. Aber nachdem Hamil gestorben war, musste ich Verantwortung übernehmen. Ich glaube, das hat mich verändert.«
»Das mit Hamil tut mir leid, Jesko.« Sie meinte das aufrichtig. Hamil war im Gegensatz zu Jesko ein in sich gekehrter Mann gewesen. Sie hatte ihn gemocht. »Wie ist das passiert? Wir haben nur gehört, dass er gestorben ist.«
»Ein Unfall.« Jesko fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Hamil war auf einem Bergpfad unterwegs. Eine Gerölllawine ging auf ihn nieder. Er stürzte in eine Felsschlucht und wurde von Steinen zermalmt.«
»Armer Hamil! Es muss schrecklich für deine Mutter und dich gewesen sein.«
»Ganz besonders für Mutter. Die beiden waren sich sehr nah. Ich versuche, Mutter so gut wie möglich zu unterstützen. Aber Hamil fehlt. Man spürt es überall.«
»Und jetzt, wo deine Mutter Rätin geworden ist, hast du noch mehr Verantwortung.«
»Das ist richtig. Aber du bist zur Erbin des Herrschers über die Stämme geworden. Das ist auch nicht ohne.« Er lächelte schief.
»Es scheint, als wären wir beide in Positionen gekommen, die wir uns vor sechs Wintern nicht hätten vorstellen können.« Es fühlte sich seltsam an, ausgerechnet mit Jesko etwas gemeinsam zu haben.
»Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es tun«, sagte Jesko. »Um Mutters und Hamils wegen«, setzte er eilig hinzu, »ich würde mich nicht noch einmal dir gegenüber so benehmen.«
Meinte er es ehrlich? Oder hatte sie ihn in ihren Erinnerungen zu einem Taugenichts gemacht, der er nicht war? »Das hoffe ich, Jesko«, erwiderte sie leise. »Du hast mir sehr wehgetan.«
Er machte eine Bewegung, als wolle er ihr die Hand auf den Arm legen, hielt sich aber zurück. »Das weiß ich. Es war falsch. Es tut mir leid. Auch wenn diese Worte den Schmerz wahrscheinlich nicht aufwiegen können.«
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