1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 »Raissa Stone. Sie können Rai sagen. Ich arbeite auf der Base.«
»Ich bemerkte den leichten Akzent in Ihrer Sprache. Sie sind nicht von hier? USA?«
»Richtig. Kentucky.«
»Ihr Deutsch ist exzellent.«
»Die Urgroßeltern, vonseiten meines Vaters, kommen aus Hessen. In der Familie wird Wert darauf gelegt, auch die Heimatsprache der Wurzeln zu sprechen. Ich habe in Berlin und Aachen studiert.«
Sie saß locker auf dem Pferd und bot ihm in der Seitenansicht einen wahrhaft kurvigen Anblick. Die Frau war mindestens so groß wie er und circa Ende zwanzig, Anfang dreißig.
»Raissa ist ein russischer Name.«
»Jetzt haben Sie meine Familie erwischt.« Sie lachte locker. »Mein Vater besaß leichte Tendenzen zum Kommunismus. Vor einigen Jahren war das noch ein Verbrechen. Heute schert sich niemand mehr darum.«
»Was arbeiten Sie auf der Base?«
»Dies und das.« Sie antwortete ausweichend.
»Vielleicht sieht man sich wieder.« Kurt hob die Hand und trieb das Pferd an.
»Bestimmt«, rief sie.
Ruhig trabte er davon. Eine schöne, aber auch gefährliche Frau, sagte sein Inneres. Bei aller Faszination, die von ihr ausging, spürte er etwas Gefährliches in ihr. Ein Warnsignal? Wovor? Diese Frau konnte Claudia nicht das Wasser reichen. Rai besaß etwas Raubtierhaftes, das ihn ebenso anzog, wie abstieß. Wenn er richtig überlegte, neigte er dazu, sie abzulehnen. Was gab es abzulehnen?, fragte Kurt leicht amüsiert in Gedanken. Er kannte die Frau gerade mal wenige Minuten, doch sie würde eine Rolle in ihrem Leben spielen. Er drückte die Gedanken beiseite und sah dem gelben Punkt entgegen, der näherkam.
Leo? Was machte der hier? Der sollte doch in der Schule sein.
Leo war so etwas wie sein Neffe. Bis vor wenigen Monaten wussten sie nichts voneinander. Hannah Hüffner, Kurts Mutter, hatte ein Techtelmechtel mit Leos Großvater, aus dem Kurt hervorging. Die komplizierten Familienverhältnisse und die widrige Aufklärung darum, verdrängte Kurt, so gut es ging. Leo war behindert. Stehen geblieben auf der Stufe eines sieben- oder achtjährigen Jungen. Mittlerweile war er fünfzehn. Kurt agierte als gesetzlicher Vormund und sorgte dafür, dass er die bestmögliche Förderung und Ausbildung erhielt. Leo lebte weiterhin bei den Pflegeeltern, die ihn wie ein eigenes Kind liebten. Was mochte geschehen sein?
»Leo, was machst du hier?« Kurt hielt das Pferd an und sprang herab.
»Ist kalt«, sagte der Junge, den eigenen Gesetzen folgend.
»Warum bist du nicht in der Schule?«
»Keine Schule. Muss laufen.« Er drehte schon wieder ab. Leo hielt niemand. Immer in Bewegung und seinen Gedanken unterworfen.
Kurt versuchte nicht, ihn aufzuhalten. Es war sinn- und zwecklos. Er musste noch einmal mit den Schuhmachers, Leos Pflegeeltern, sprechen.
Gedankenvoll sah er dem Jungen hinterher. Es war kein gutes Zeichen, dass sie sich hier trafen. Erst die Amerikanerin und jetzt …
*
Claudia setzte ihre Suche im Haus des Ermordeten fort. Sie saß im Wohnraum auf der Couch. Aber die erhoffte Inspiration kam nicht. Die Wohnung blieb tot, wie ihre ehemaligen Bewohner. Keine Atmosphäre. Immer wieder glitt der Blick über Wände, Fußboden und Möbel in der Hoffnung einen Punkt zu finden, der etwas, über den oder die ehemaligen Bewohner, preisgab. Mutlos fiel sie nach hinten und lenkte die Augen zur Decke. Auch nichts. Auf dem Weg nach draußen bemerkte sie, dass sie ihre Schlüssel irgendwo abgelegt hatte. Genervt stampfte sie zurück. Da … auf der Couch lagen sie, Auto- und Hausschlüssel. Während sie die Schlüssel aufnahm, fuhr eine Hand gewohnheitsmäßig durch die Ritzen der aneinanderstoßenden Kissen. Sie ertastete einen Widerstand. Die Fingerspitzen trafen auf einen halbwegs runden Gegenstand. Sie hielt eine Münze in der Hand. Kupfer, Messing oder Bronze … sie wusste es nicht. Ungleichmäßig rund.
Maria sagte doch etwas von einer Münze. Die wurde bei der Toten gefunden. Ob sie eine erste Spur hatten? Sie betrachtete das wahrscheinlich antike Geldstück. Schmucklos und ungewöhnlich dick lag es in ihrer Hand. Der Avers zeigte ein Tier, die Stilisierung eines Steinbocks und der Revers, etwas wie einen doppelten Anker.
Griet, dachte sie. Kurts Nachbarin und Freundin war Anthropologin. Sie musste ihr letztendlich etwas dazu sagen können.
Unruhig hob sie den Kopf und witterte wie ein Tier. Die Nasenflügel blähten, als könne sie darüber aufnehmen, was in der Luft lag. Tief im Innern stieg Angst herauf und trieb sie aus dem Gebäude. Fast laufend stürzte sie über den Hauseingang auf den Boden nach draußen. Sie rappelte sich hoch und stand ohne Zeitbewusstsein auf der Straße. Was geschah? Solche Furcht hatte sie noch nie empfunden. Eine Klammer drückte ihr Herz zusammen und ließ den Druck würgend die linke Halsseite emporsteigen. Gehetzt flogen Claudias von rechts nach links. Sie stand allein. Einbildung? Oder wieder eine der seltsamen Anwandlungen, die sie in dieser Gegend häufiger bekam? Nein … der Boden zitterte. Es gab einen dumpfen, kaum merklichen Schlag und das Gebäude vor ihr, fiel zusammen. Keine Explosion. Es implodierte. Das Mauerwerk zog nach innen, anderen Kräften, als denen der Schwerkraft folgend. Fassungslos sah sie den zeitlupenartigen Vorgang, der dann urplötzlich rasend schnell ablief. Gehetzt sah sie sich um. Sie stand alleine auf der Straße. Niemand reagierte. Unfassbar.
Claudia informierte die Kollegen in Geilenkirchen und ließ das eingestürzte Gebäude großräumig absperren. Mittlerweile kamen auch die ersten Schaulustigen.
Keine Minute später und … sie wäre in die Erde gezogen worden … so schien es zumindest. Ich bin nicht abergläubisch, dachte sie. Doch im Moment? Die Erde hatte sich aufgetan, anders war die Situation nicht zu beschreiben. Der Schlund der Hölle. Claudia schüttelte sich und wartete gespannt darauf, was ihre Kollegen dazu sagten. Das dauerte. Erst, wenn die Experten das zusammengefallene Haus untersucht hatten, konnte sie etwas unternehmen.
Zutiefst beunruhigt fuhr Claudia nach Hause und warf die Berufskleidung in eine Ecke. Nicht, dass sie einer Kleiderordnung unterlag. Während der Arbeit trug sie meist Rock und Bluse. Ein Zugeständnis an ihre Erziehung. Im Elternhaus bestand eine Vorstellung von Etikette, die fast archaisch anmutete. Mädchen trugen Kleider oder Röcke, die knapp unter dem Knie endeten. Wieso unterlag sie diesem Zwang immer noch. Schlabberhose und Shirt trugen sich viel bequemer. Bei dem Gedanken kicherte sie. Noch vor einigen Wochen wäre sie so nicht vor die Tür gegangen. Ihre holländischen Nachbarn vermittelten eine lockere Lebensart. Ihre Eltern würden einen Infarkt bekommen. Auch seltsam … in den letzten Jahren dachte sie nie so oft an Zuhause, wie seitdem sie in diesem Dorf lebte. Bald war Weihnachten, dann fuhr sie nach Hause. Die Gelegenheit einige Fragen zu stellen. Der arme Kurt. Sie kicherte weiter. Ob er wollte oder nicht, er musste mit.
Claudia machte sich auf den Weg durch den Garten zum Törchen, das die beiden Grundstücke miteinander verband. Sie staunte, wie schnell die Umgewöhnung geschah. Aus der engen Aachener Appartementwohnung in dieses große Haus mit dem riesigen Grundstück. Selbstverständlich und fast ohne darüber nachzudenken, nahm sie es hin. Paul Grebner, der Nachbar, stutzte die Sträucher und arbeitete so vertieft, dass er Claudia erst bemerkte als sie neben ihm stand.
»Welch seltener Besuch«, lächelte er und legte die Gartenschere aus der Hand. Dabei richtete er die kräftige Figur auf. Die tiefblauen Augen musterten sie. »Komm, Griet hat bestimmt einen Kaffee fertig.«
Ungezwungen schlenderten sie zum Haus. Paul erklärte ihr, wie er die Rosen schnitt. Wichtig sei nur, dass man schneidet, und zwar regelmäßig, denn fast alle Rosen blühten wie die meisten anderen Sommerblüher und Spätblüher, am diesjährigen einjährigen Holz. Neue Ableger trieben vor allem nach kräftigem Rückschnitt. Sie hatte absolut keine Ahnung, was er meinte und wollte dem Garten künftig mehr Zeit widmen. Es musste etwas dran sein, wenn so viele Menschen sich als Hobbygärtner betätigen.
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