1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 Sie verschafften sich aber nur einen Überblick, auch als ihnen ein Verkäufer helfen und sie beraten wollte, bedankten sie sich und sagten ihm, dass sie sich nur umschauen und noch nichts kaufen wollten. Sie hatten so viel Zeit auch nicht und mussten in einer halben Stunde in der Röhre sein, um Anna Lieberecht dort zu treffen. Sie nahmen also wieder ihre Räder und fuhren bei der Sparkasse am Königlichen Hof in die Bankstraße, in der sie dreihundert Meter weiter die Röhre erreichten. Sie fühlten sich gleich an früher erinnert, wie sie ihre Auto dort parkten, wo sie jetzt ihre Räder abstellten, die Erinnerung war ganz angenehm. Sie schauten sich um und erkannten in der Umgebung vieles von dem wieder, was es früher dort schon gegeben hatte. Während ihres Dienstes, den sie all die Jahre in der Polizeiinspektion verrichtet hatten, waren sie nie mehr in der Röhre gewesen. Sie sahen einfach, dass es einen Besucheraustausch gegeben hatte, wahrscheinlich war das schon der vierte oder fünfte, die Röhre war zwar keine reine Jugendkneipe, aber das Publikum war doch deutlich jünger als die beiden Kommissare, und das wussten sie auch. Das gehörte aber zum Prozess des Älterwerdens dazu, dass man bewusstseinsmäßig ganz andere Felder beackerte als früher, alles um einen herum war gealtert, die alten Bekannten, vor allem aber die eigene Wahrnehmung, die einen so etwas wie die Röhre mit ganz anderen Augen sehen ließ als früher.
Das innere Vibrieren gab es nicht mehr, man zerfloss nicht mehr vor Sehnsucht, wenn man ein schönes Mädchen sah, das war vorbei, aber man trauerte dem auch nicht nach, weil sich einem andere Sphären der Befriedigung erschlossen hatten. Wäre die Art der Aufnahme der Umgebung nicht mitgewachsen und hätte sie sich mit dem Altern nicht mit verändert, müsste man vermutlich verzweifeln, wenn man sich in dem Alter befände, in dem die Kommissare waren, der Blick war weiter, und er war vor allem anders geworden. Sie verspürten beide heute nicht mehr die Aufgewühltheit, wenn sie die Röhre betraten und sich den Blicken der anwesenden Gäste stellen mussten, sie gingen einfach hinein wie in jede andere Kneipe auch und setzten sich an einen freien Tisch. Das hatten sie früher nicht getan, sondern sie hatten praktisch die ganze Zeit über gestanden, aber dass sie so problemlos einen Sitzplatz bekommen hatten, lag sicher an der Tageszeit, am Nachmittag waren einfach noch nicht so viele Gäste da. Als die Kellnerin kam, bestellte sich jeder einen Cappuccino und sie sahen sich um, vermochten sich aber kaum zu erinnern, wahrscheinlich hatte man früher das Interieur gar nicht wahrgenommen und seine Augen nur bei den Mädchen gehabt. Kurze Zeit später setzte sich eine junge Dame an ihren Tisch, die sich als Anna Lieberecht vorstellte, und die beiden Polizisten gaben sich sofort zu erkennen. Anna war ein gutaussehendes attraktives Mädchen und sie kamen gleich ins Gespräch, die Kommissare entspannten die Atmosphäre sofort und nahmen Anna die Scheu, die sie am Telefon noch gezeigt hatte. KHK Leber fragte sie:
„Was möchtest Du trinken?“ und sie bestellte sich eine Cola light, er erzählte Anna:
„Mein Kollege und ich sind vor mehr als fünfundzanzig Jahren ab und zu in die Röhre gefahren und haben uns hier mit unseren Freunden vergnügt.“ Anna sah ihn groß an und lächelte, KHK Leber konnte nicht sagen, ob das Freundlichkeit oder Mitleid war, er kümmerte sich aber auch nicht darum. Er fragte Anna:
„Wie würdest Du Dein Verhältnis zu Birte Schoemakers beschreiben?“ und Anna antwortete gleich:
„Birte ist meine beste Freundin gewesen! Ich bin seit der achten Klasse im Gymnasium in den Filder Benden mit ihr zusammen gewesen, wir haben uns nach der Schule beinahe täglich getroffen und gemeinsam unsere Freizeit verbracht.“
„Was habt Ihr denn so unternommen?“, fragte KHK Leber nach und hoffte, so vielleicht eine Andeutung von einer Freizeitbeschäftigung zu bekommen, die sie noch nicht kannten. Anna berichtete von gemeinsamen Besuchen des Freibades Solimare, die sie immer besonders genossen hatte, weil sich die Augen aller Badbesucher im Beisein von Birte auf sie richteten.
„Birte ist ausnehmend schön gewesen, die Gespräche der Besucher sind beinahe verstummt, wenn Birte in ihrem Bikini durch das Bad gelaufen ist. Wir haben uns oft zudringlicher Jungen erwehren müssen, wenn wir auf der Liegewiese gelegen haben, Birte hat sie freundlich aber bestimmt immer verscheucht.“
„Sind denn die anderen Mädchen auch dabei gewesen, wenn Ihr im Freibad gewesen seid?“, fragte der Kommissar nach und Anna antwortete:
„Sehr oft sind Svenja und Maria dabei gewesen. Manchmal haben wir zum Schutz vor allzu forschen Verehrern Jungen aus der Jahrgangsstufe mitgenommen, die bei uns lagen und so signalisierten, dass man Birte und mich in Ruhe lassen musste.“
„Hat denn Birte eine Jungenbekanntschaft gehabt?“, wollte der Polizist wissen und Anna sagte:
„Es hat eine Beziehung gegeben, die ist aber nach zwei Wochen von Birte beendet worden, weil sie sich in ihrem Freiheitsstreben eingeschränkt gefühlt hat, sie hat auf einer Jahrgangsstufenfahrt nach Berlin mit jemandem angebändelt, aber das hat auch nur so lange gedauert, wie wir in Berlin gewesen sind, ansonsten ist mir von Jungenbekanntschaften Birtes nichts bekannt“, sagte Anna. Am Schluss stellte KHK Leber wieder die Standardfrage, ob Anna sich jemanden als Birtes Mörder vorstellen könnte. Anna überlegte kurz und schüttelte ihren Kopf:
„Ich kann mir beim besten Willen niemanden vorstellen, der Birte hätte umbringen sollen.“ Die Beamten bemerkten wie sich Annas Augen mit Tränen zu füllen begannen und KHK Leber gab ihr ein Tempotaschentuch:
„Es tut mir leid“, sagte er, „aber wir haben Dir die Frage stellen müssen.“
„Das verstehe ich ja auch, aber Birtes Ermordung ist mir so nahe gegangen, ich habe zwei Tage lang nur geweint“, sagte Anna, „ich weiß nicht, ob ich Birtes Beerdigung überhaupt durchstehen kann und nicht in einen Weinkrampf nach dem anderen verfalle.“
„Das können wir gut verstehen“, sagten die Polizisten zu ihr, „Du musst aber dennoch versuchen, tapfer zu sein und an der Beerdigung teilnehmen.“ Die Beerdigung fände am nächsten Morgen auf dem Hülsdonker Friedhof statt und Anna glaubte, dass die halbe Schule teilnähme. Birte hätte sich sehr großer Beliebtheit erfreut, auch bei den Kleineren, denen hätte sie in der Hausaufgaben-AG immer geholfen.
„Was willst Du denn einmal werden?“, fragte KHK Leber sie und Anna antwortete:
„Ich will versuchen, in ein Lehramtsstudium zu rutschen, Deutsch und Französisch sind meine Lieblingsfächer.“ Die beiden Beamten wünschten Anna viel Glück für ihre Schullaufbahn und entließen sie wieder. Sie wohnte nur hundertfünfzig Meter von der Röhre entfernt, ein Stück weiter Richtung Friedrich-Ebert-Platz, direkt neben dem Grafschafter Gymnasium. Die Kommissare zahlten und verließen die Röhre wieder, es ging auf 17.00 h zu und sie machten Feierabend.
Zu Hause fragte Frau Leber ihren Mann, was denn seine Suche nach einem Flachbildfernseher ergeben hätte, es würde Zeit, dass sie ein funktionierendes Gerät bekämen, sie hätten sich die ganze Zeit mit dem kleinen Gerät von Max beholfen, das wäre auf Dauer aber nichts.
„Wenn Du willst, kann ich am nächsten Tag ein Gerät mitbringen“, sagte ihr Mann, „Saturn hat gerade ganz gute Angebote.“ Am nächsten Morgen war um 10.00 h die Beerdigung angesetzt und als die Beamten sich mit einem Dienstwagen dem Friedhof näherten, trauten sie ihren Augen nicht. Nicht nur, dass die Geldernsche Straße mit Autos zugestellt war und sie nur mit Mühe bei Cafe Jedermann einen Parkplatz bekamen, Massen von Schülern versammelten sich vor dem Friedhofseingang, jeder hatte Blumen, Kerzen oder kleine Erinnerungsstücke in der Hand, die er am Grab ablegen wollte. Die Polizisten erkannten Dr. Domrose und einige Lehrer in ihrer Begleitung, der Schulbetrieb war für drei Unterrichtsstunden unterbrochen worden, und sie sahen Birtes Eltern und ihre Verwandtschaft. Herr Schoemaker stützte seine Frau auf dem Weg zur Friedhofskapelle, die für die Besuchermassen viel zu klein war, weshalb der Pfarrer den Gottesdienst nach draußen verlegte, das war noch nie da gewesen. Birtes Sarg stand vor der Kapelle und ihre Mutter saß neben ihm und weite. Nach dem Gottesdienst ging die gesamte Trauergemeinde langsamen Schrittes zum Grab, viele weinten, fast alle hatte Taschentücher in der Hand.
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