Ohne zu zögern biss er in seinen Arm und ließ sein Leben in ihren Mund tropfen. Shana verzog das geschwollene Gesicht und Gabriel atmete auf. „Trink, es wird dir helfen.“ Sie gehorchte, wenn auch äußerst ungern. Er wusste, dass sie ein kluges Mädchen war. Sein Blick wanderte zu dem atmenden Wollknäul. Niemals in seinem Leben würde er öffentlich zugeben den Kleinen niedlich zu finden. Die großen Augen, das weiche Fell, diese winzige… Hinter ihm rüttelte sich die Harpyie tobend wieder auf. Shanas Wunden waren bereits wieder am Heilen, alles in allem sah sie nicht mehr wie eine Untote aus - Nein sie sah sogar richtig lebendig aus! Vorsichtig lehnte er sie gegen den Grabstein und sofort hüpfte der Kleine auf ihren Schoß. „W-was…“ Ein Hustenanfall schüttelte sie und den Wolfsjungen. „Ich kümmere mich drum, du bleibst schön hier und spielst Totenwächter!“ Grinsend rannte er auf die Harpyie zu, was sie anscheinend noch wilder machte. Nur zu, komm und stirb bei dem Versuch! Krachend prallten die zwei Kontrahenten aufeinander. Zuerst konnte er ihren unkontrollierten Schlägen ausweichen, bis sie ihn eiskalt erwischte. Seine Magengegend fühlte sich deformiert an und kurz darauf nahm auch er Bekanntschaft mit herumstehenden Bäumen. Beim gefühlten zehnten Knacken war er sich sicher auch als Baumfäller arbeiten zu können, bis er den nötigen Halt fand und somit der Flugstunde ein Ende bereitete. Erst viel zu spät sah er die Harpyie über sich und schon flogen die ersten Fäuste. Gabriel wusste nicht wie ihm geschah, eine so starke Flederfrau hatte er noch nie gegenübergestanden. Unaufhörlich schlug sie weiter, wie vom Teufel gejagt. Gabriel traf sie in den Rippen und der Blondschopf schrie auf. Hab ich dich! Schon holte sie zum Gegenschlag aus und traf ihn an der Schläfe. Ein Ticken zu lang verschwamm seine Sicht und somit wurde er in den Boden gerammt. Fuck! Was ist das für eine Maschine? Gabriel konnte nichts anderes tun als sich so gut es ging abzuschirmen. Ein zweites Mal konnte er seine Ketten nicht lösen und musste mit seiner schwächeren Version vorliebnehmen. Sein Blick wanderte zu dem Grabmal und dem Mädchen davor.
Shana sah schon viel besser aus, bloß ein paar Schrammen waren übriggeblieben. Die Tränen auf ihren Wangen sahen wie Diamanten aus, schimmerten in allen Farben. Mit dem Wolf fest im Arm sah sie wie eine Heilige aus - Keine gespielte, sondern eine echte, wahre Kreatur des Lichts. Des Lebens. Der Götter. Gabriels Verteidigung bekam Risse, die zu Löchern wurde. Er wusste genau wie es enden würde, wie es enden musste. Und es war okay. Seine letzten Momente wollte er ihr schenken, der Kreatur des Lichts – seinem Licht. Mit letzter Kraft lächelte er sie an. Gabriel war bereit zu sterben, bis zu dem Punkt wo Shana schrie.
Noch immer schaute sie ihn an, unfähig ihren Blick abzuwenden. Dieser Schrei kam aus den Tiefen ihrer Seele und schmerzte wie jeder einzelne Schlag der Furie zusammen. Es brauchte keine telepathische Verbindung um zu fühlen was er dachte, Shana sah es klar und deutlich in seinen Augen. Du darfst nicht sterben! Schrie sie immer und immer wieder in sich hinein. Gabriel hatte nicht nur ihre Wunden geheilt, er hatte auch noch dieses Monster mit Flügeln von ihr abgelenkt. Nun war sie dran. Die Quittung kam postwendend und ohne Gnade.
Mit Raubtieraugen schritt das Monster wieder auf sie zu. Tränen ließen ihre Sicht verschwimmen und sie zitterte am ganzen Körper. Das Wolfsjunges jankerte und fürchtete sich mindestens genauso sehr. Im Hintergrund hörte sie Gabriel ziemlich unanständige Dinge fluchen und nahm sich vor ihm das nächste Mal den Mund mit Kernseife auszuwaschen. Wenn es überhaupt ein nächstes Mal gibt! Wenige Meter trennten sie von ihrem Henker. Die Fledermausfrau ging ganz genüsslich auf sie zu, denn sie wusste, dass Shana sich nicht mehr weheren konnte. Sie war ihrem Schicksal vollkommen ausgeliefert. Shana zwang sich die Augen offen auf ihren Mörder zu halten in der Hoffnung wenigstens stolz zu Grunde zu gehen. Innerlich sprach sie ihr letztes Gebet, als die Blondine sie endgültig erreicht hatte. „Ich habe keine Angst vor dir!“ Das war gelogen. Shana fürchtete sich wie noch nie in ihrem Leben zuvor. Das Monster griff nach ihrem Dolch und Shana zog den Kleinen noch dichter an sich heran. Nur ein Schnitt, nur ein einziger und es ist vorbei! Die Klinge sauste herab und… Plötzlich stand ein schneeweißer Wolf zwischen ihnen und fletschte bedrohlich die Zähne. „Du willst vor ihr sterben? Gut wie du willst!“ Uneingeschüchtert von alldem lachte die Furie auf und Shana lief es eiskalt den Rücken runter. Dann geschah alles viel zu schnell.
Mit einem Biss riss er der Fledermausfrau den Kopf ab und das Blut schoss aus dem Hals und sprenkelte das reine Weiß des Fells tiefrot. Im gleichen Moment war der Zauber vorbei und die Marionetten zerfielen zu staub. Erleichtert atmete Shana auf. Erst jetzt hatte sie bemerkt, dass sie die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte. Wie Schnee wehten graue Aschekörner durch die Luft und inmitten dieser bizarren Szene stand der Wolf. Sein Maul war wie der Rest seines Körpers blutverschmiert und seine drei langen, seidenglänzenden Schwänze wiegten im Wind. Inzwischen hatte er sich ihr zugewandt, seine lila farbenen Augen sprühten nur so vor Wildheit. Anmutig wie nichts zuvor ging er auf sie zu. Shana schlug das Herz bis zum Hals. Sofort rannten Damon und Amy zu ihr, wagten sich jedoch nicht an ihm vorbei. Wie gebannt standen sie neben dem Grundschulkind hohen Tier. Shanas Blick schweifte zu Gabriel, dessen schmerzverzerrtes Gesicht Bände sprach. Immer mehr Wölfe kamen aus dem Wald hervor und eine Wölfin jaulte herzzerreißend bei dem Anblick. Er beugte sich mit seinem riesigen Kopf zu ihr runter und betrachtete das Wolfsjungen in ihren Armen. Shana ließ den Kleinen los, doch er bewegte sich nicht weg.
Wie eine Wolfsmutter putze er das Blut vom kleinen Körper und die Wunden schlossen sich. Shana und die anderen konnten es kaum glauben. Noch etwas zittrig sprang der Welpe kurz darauf aus ihrem Arm und rannte jauchzend zu seinen Artgenossen. Die Freude bei dem Rudel war kaum zu übersehen und vor Glück liefen Shana schon wieder Tränen über die Wangen. Ja, geh zurück zu deiner Mama! Auf einmal spürte sie, wie eine sanfte warme Zunge über ihren Arm glitt. Dieses unnatürlich schöne Tier, das ihr das Leben gerettet hatte heilte nun auch noch den Rest ihrer Wunden. „Das ist unglaublich!“ Damons Augen waren so weit aufgerissen wie ihre eigenen. Amy hielt sich die Hände vor dem Mund und schüttelte ungläubig ihren Kopf, ihr Erstaunen stand ihr mit Druckbuchstaben ins Gesicht geschrieben. Der Schmerz, den zuvor Shanas Körper durchfloss verschwand mit jeder Berührung bis nichts davon übrigblieb. Nach getaner Arbeit setzte sich der Riesenwolf vor ihr hin. Dankbar und überwältigt von den ganzen Ereignissen umarmte sie das Tier herzlich und ließ ihren Tränen endgültig ihren Lauf. „Ich danke dir von ganzem Herzen.“ Ihre Stimme war brüchig und kaum hörbar. Der ganze Brustkorb vibrierte und Shana gleich mit. Kichernd ließ sie von ihm ab und Damon half ihr auf die Beine. Überall lagen umgekippte Bäume und tiefe Krater hinterließen ein Bild der Zerstörung. Gabriel lehnte sich kraftlos an einen Baum, umringt von Zähne fletschenden Wölfen. Anscheinend mögen Wölfe keine Vampire. „Undankbare Köter! Wer hat gerade fast seinen Arsch geopfert um eure tote Gottheit vor Grabräuberei zu schützen?! ICH! Ich musste eure verkackte Welt retten!“ Shana musste schmunzeln. Wenn er schon wieder so fluchen konnte, waren seine Verletzungen nicht lebensgefährlich.
Und schon ließ Gabriel eine ganze Reihe von Flüchen vom Stapel, bis der weiße Wolf der Belagerung ein Ende setzte. Schnaubend verschwand ein Wolf nah dem anderen ins Gestrüpp, bis auf das schönste Tier auf Erden. Völlig entspannt ließ er sich zwischen Gabriel und ihr nieder. „Gern geschehen, Kläffer!“ Keuchend hielt er sich die Brust.Shana wusste genau wie beschissen es ihm ging, wie wenig Kontrolle er schon im normalen Zustand über sich hatte. Wenn er dann noch so viel einstecken musste waren die Schmerzen die reinste Qual. Eine grausame Art der Folter, sowas wünsche ich wirklich niemandem! Unauffällig versuchte Shana sich Gabriel zu nähern. „Ist alles in Ordnung bei dir?“ Eine kühle Hand griff nach ihrem Arm. Es war Amy, die außer ein paar Kratzer anscheinend nichts abbekommen hatte. Lächelnd nickte sie ihrer Freundin zu. „Wäre er hier nicht gekommen, sähe die Sache wahrscheinlich ganz anders aus. Was ist mit euch, seid ihr ok?“ Shana strich dem liegenden Wolf stolz über den Kopf. „Bis auf ein paar Kratzer ist nichts passiert. Was ist mit dir Gabriel?“ Keine Reaktion. Gegen seinen Willen hockte Amy sich zu dem Vampir und betastete Rippen, Arme und Beine. „Scheint nichts gebrochen zu sein.“ Erleichtert ließ sie von ihm ab, stand aber noch immer nicht auf. „Ja nicht mehr, Geistchen. Schon vergessen was ich bin?!“ Schnaubend verzog Amy die Mundwinkel und beäugte ihn scharf. „Du interessierst mich im gleichen Maße wie ich dich interessiere.“ Amy stand auf, dabei klopfte sie den Dreck aus ihrer kaputten Jeans. „Ich finde du könntest etwas netter zu Anderen sein. Würde dir guttun.“ „Und ich finde das geht dich ´n feuchten Kehricht an!“ Der Naturgeist stöhnte.
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