Um vier Uhr morgens wurde Shana wach und konnte nicht mehr schlafen. Leise schlich sie sich aus dem Zimmer und ging in den Innenhof des Tempels. Wieder einmal dankte sie Gott zuhause einen fast unerschöpflichen Vorrat an Büchern zu haben, und sich selbst, weil sie cleverer Weise immer eins davon bei sich trug. Shana setzte sie sich in die Pergola, zündete eine Kerze an und begann zu lesen. Es war ein wohltuend erfrischendes Gefühl den typischen Papiergeruch in sich aufzunehmen. Plötzlich flüsterte aus heiterem Himmel eine tiefe Stimme in ihr Ohr. „So allein und schutzlos…“ Und erschreckte sie damit zutiefst. „Gabriel! Meine Güte erschreck mich doch nicht so! Ich habe fast einen Herzstillstand gehabt!“ Schulterzuckend verlagerte der Vampir sein Gewicht und nahm neben ihr Platz. „Ich dachte du hättest mich kommen hören.“ „Habe ich aber nicht! Nicht jeder kann so ein Supergehör haben wie du!“ Gab sie hitzig zurück. Am liebsten hätte sie ihn dafür geschlagen, hielt sich aber zurück. „Wie gesagt es tut mir leid, okay?“ Entgegnete er versöhnlich doch sie erinnerte sich nicht daran, es vorher von ihm gehört zu haben. Trotzdem nickte sie leicht und wandte sich wieder ihrem Buch zu. „Kannst du nicht mehr schlafen?“ Shana stöhnte innerlich. „Wenn ich schätzen dürfte würde ich sagen dir geht es genauso.“ Er nickte. „Was liest du da?“ Sieht er nicht, dass ich zu tun habe?! „Ist eine Familienaufzeichnung. Alle besonderen Fähigkeiten meiner Vorfahren sind dort gelistet, zu mindestens glaube ich, dass es meine Vorfahren sind. Ich dachte es könnte helfen herauszufinden was ich bin.“ Enttäuschung machte sich breit. Völlig ungeniert rutschte er näher und lugte auf das Papier. „Bisher was gefunden?“ „Noch nicht. Es tauchen zwar immer und immer wieder dieselben oder ähnliche auf aber nix was mit Feuer zu tun hat.“ Ohne Vorwarnung löste sich ihr Ärger in Luft auf. Shana schaute zu ihm rüber, seine Haut war noch immer so blass wie Marmor. Die Flamme der Kerze spiegelte sich in seinen hellen Augen. Bilder vom Abend am See tauchten vor ihrem inneren Auge auf, ließen ihre Wut nun völlig dahinschmelzen. „Kannst du deinen Durst mittlerweile wieder kontrollieren?“ Kurz sah er sie überrascht an, bis sein Gesicht wieder undurchdringlich wurde. „Ich komme schon klar.“ Skeptisch kräuselte sie die Nase.
„Klingt für mich eher nach einer versteckten Botschaft.“ „Und die da wäre?“ Abwartend verschränkte er die Arme vor der Brust und Shana musste sich beherrschen nicht hormongesteuert nur darauf zu starren. Mit einem breiten Grinsen schloss sie das Buch wieder. „Mir geht’s bescheiden, bitte bitte hilf mir meine Retterin!“ „Machst du dich über mich lustig?“ Gabriels silbernen Augen durchbohrten sie noch immer, allerdings war die Kälte fort. Noch immer grinste sie wie Meister Depp. „Bisschen vielleicht.“ Gabriel seufzte tief. „Du bist nicht ganz dicht.“ „Dann haben wir wenigstens was gemeinsam.“ Stichelte sie weiter. Einen Moment lang sagte niemand was, weil keiner wusste, wie. „Weiß Mr. Hudgie denn von deinem Problem?“ Gabriel fuhr sich durch die dunklen Haare und Shana musste schlucken. Diese Geste war wesentlich sexier als Damons Spann-Shirt. „Er war dabei, als ich mal die Kontrolle verlor. Habe damals eine Mitschülerin angegriffen und wäre er nicht dazwischen gegangen wäre sie mit Sicherheit jetzt tot.“ Die nächsten Worte passten überhaupt nicht zu seiner undurchdringlichen Außenfassade und trotzdem wusste Shana, dass dies der wirkliche Gabriel war. „Deswegen werde ich nicht zum Training erscheinen, in dem Zustand bin ich einfach zu gefährlich.“ Gabriel versuchte Shanas Blicken auszuweichen, um seinen Schmerz und seine Wut nicht preiszugeben. „Du solltest bei dem Training dabei sein. Mr. Hudgie will dir nur helfen.“ Heute Abend hatte Shana einen Lauf, schon wieder musterte er sie verwundert. „Wie stellst du dir das vor? Denkst du, wenn ich die Kontrolle verliere, dass du mich aufhalten kannst? Süß gedacht aber voll daneben Shana!“ Dieser schnippische Ton ließ sie rasen vor Wut. „Ich bin nicht dämlich Gabriel! Natürlich weiß ich das und genau deswegen lassen wir es gar nicht so weit kommen. Du wirst vor dem Training und zur Not auch noch danach etwas von meinem Blut trinken, damit du keinen Blackout kriegst.“ Ihre Stimme war sanft doch ihre Worte klangen deswegen nicht weniger bestimmend. „Warum tust du das für mich?“ Flüsterte er als wäre die Wahrheit so abwegig.
„Weil wir Freunde sind. Und ich möchte nicht, dass einer meiner Freunde leiden muss – zu keinem Zeitpunkt. Du bist nicht so wie du dich siehst und ich werde erst aufhören dir zu helfen, wenn du meine Hilfe nicht mehr brauchst.“ Shana sah ihm in die Augen und spürte wie ein Sturm in ihm tobte. Auch wenn die Fassade dick war, sie hatte Risse, durch die man das Unheil dahinter deutlich sehen konnte. Nachdem er das Gesagte verdaut hatte, nickte er erschöpft. „Keiner erfährt davon was, verstanden? Und schon gar nicht Damon, dieser Mistkerl würde…“ „Schon gut, ist angekommen, ich versprech´s dir!“ Unterbrach sie sein aufbrausendes Ego. Sie war froh einen Zugang zu ihm gefunden zu haben, denn was Amy vermutete war gar nicht so weit an der Wahrheit vorbei. Er kapselt sich nur ab, weil er niemandem wehtun will. Das an sich macht ihn schon zu einem von den Guten. Shana rutschte zu ihm rüber und legte ihren Hals frei. Ohne zu zögern beugte er sich zu ihr rüber und trank bis der Sturm in ihm verschwand.
Die nächsten drei Tage waren für alle der blanke Horror.
Um 6 Uhr morgens ging das Training los und endete meistens erst gegen 18 Uhr. Zwischendurch gab es zwar immer wieder kleinere Pausen, aber die Mönche des Tempels forderten jeden bis an seine Grenzen, sodass die Pausen ein Tropfen auf dem heißen Stein waren. Gabriel und Shana trafen sich jede Nacht im Innenhof und jedes Mal trank er etwas mehr. Mittlerweile konnte Gabriel Dinge nur mit seinen Gedanken kontrollieren und riesige Eisschwerter aus dem nichts erschaffen. Und auch Shana hatte große Fortschritte gemacht. Sie konnte nun das Feuer zügeln und es sogar als Schutzschild gegen feindliche Angriffe nutzen. Zudem lernte sie viele effiziente Angriff- und Verteidigungstechniken für den Nahkampf. Sie konnte sich nun auch wie die anderen Schüler schneller bewegen. Amy lernte zum Beispiel wie sie die Erde und die Pflanzen beeinflussen konnte. Mittlerweile konnte sie sogar schon mit Vögeln sprechen. Jenna beherrschte einige nützliche Zaubersprüche für den Kampf. Außerdem konnte sie nun Barrieren erschaffen oder auch zerstören. Lauras Vorhersagen wurden deutlicher und die Zwillinge konnten aus Lehm Totenkrieger erschaffen. Mit der Kontrolle der Lehmklopse klappte es zwar noch nicht ganz aber Elliot konnte sich an den Dingern prächtig austoben. Sie beherrschte mittlerweile fast alle Kampfsportarten und konnte die meisten Waffen problemlos nutzen. Ihre Lieblingswaffe war allerdings ein kleiner Dolch. Charlotte lernte andere zu Hypnotisieren und das Herbeirufen des Wassers.
Chris konnte sich nun in verschiedenste Tiere verwandeln und trieb wo er nur konnte mit seinen Fähigkeiten die anderen in den Wahnsinn. Damon konnte nicht nur fliegen, er konnte in der Luft kämpfen! Zudem beherrschte er nun die Schwerterkunst der alten Krieger, das Charavis. Alle konnten ihre Kräfte nun wesentlich kontrollierter einsetzten und Mr. Hudgie war zufrieden. Donnerstagabend saßen sie alle noch etwas zusammen und spielten gemeinsam Karten. Selbst Gabriel gesellte sich still zu der Gruppe. Alle waren erleichtert das Höllentraining heil überstanden zu haben und natürlich auch unglaublich gespannt auf das Fest am nächsten Abend. Das Ookamifest war den Dorfbewohnern unglaublich heilig, denn an diesem Tag ehrten sie den Todestag der Wolfsgöttin. Unzählige Touristen vermischt mit Wolfsdämonen strömten zu dieser Zeit auf die kleine Insel und die Menschen dort spielten vor Ehrerbietung fast verrückt. Die alten Straßen wurden auf traditionelle Art und Weise geschmückt und überall hingen verzierte Papierlaternen. Das Fest begann erst gegen Nachmittag und Mr. Hudgie gab seinen Schülern den Vormittag frei. Die meisten nutzen diese Zeit um etwas Schlaf nachzuholen und fit für ihre Aufgabe zu sein. Meister Yamasen hatte den Schülern erklärt, dass nicht alle Dämonen dem Dorf wohlgesonnen sind und es in den letzten Jahren vermehrt zu Angriffen gegenüber den Dorfbewohnern kam. Einige Wolfsdämonen geben den Dorfbewohnern die Schuld für den Tod ihres Alphaweibchens und wollen die Menschen von der Insel vertreiben. Jeder der Elf kannte seine Aufgabe genau. Sie mischten sich in zweier Teams unters Volk und achteten darauf, dass alles friedlich blieb. Als das Fest voll im Gange war, trafen sich Damon, Amy, Gabriel, Laura und Jenna und Shana um ein paar Souvenirs zu kaufen und anschließend etwas zu essen.
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