Das Buch
1943 Harry Molter, ein junger Landwirt in Düsseldorf, wird wegen der »Schwarzschlachtung« einer Sau denunziert und von der Gestapo verhaftet. Der Gestapo-Offizier Richard Augsburger stellt ihn vor die Wahl: Gefängnis oder Ostfront.
1951 Auf dem Speicher ihres Wohnhauses bemerkt die zehnjährige Rosa eine düstere Gestalt. Harry Molter! Nach einer langen Odyssee zwischen Front, Lazarett und Irrenanstalt, psychisch nahezu gebrochen, lebt er obdachlos in den Trümmern Düsseldorfs. Seine Frau und seine Kinder sind verschollen. Die langsam wachsende ungleiche Freundschaft mit dem Mädchen entfacht einen neuen Lebenswillen. Doch auch Augsburger lebt unentdeckt und unter falscher Identität in den Trümmern. Der Nazi müsste wissen, wo sich Harrys Familie befindet. Wird Harry ihn zum Sprechen bringen?
Die Autorin
Doris Bender-Diebels, geboren 1948 in Düsseldorf und dort aufgewachsen, lebt in Wuppertal. Viele Jahre arbeitete sie als Krankenschwester, Familientherapeutin und Dozentin für Pflegeberufe in verschiedenen Bereichen der Psychiatrie. Vor allem die Geschichte der Psychiatrie, insbesondere die Verfolgung von psychisch Kranken und von geistig behinderten Menschen im Nationalsozialismus und im zweiten Weltkrieg fanden bis heute ihr Interesse.
Mit diesem Buch legt sie ihren ersten Roman vor. Szenen einer Kindheit in den Nachkriegsjahren in Düsseldorf wurden zu einer spannenden Kriminalgeschichte verwoben, die im Kriegsjahr 1943 beginnt und von Willkür, Tod, Mitmenschlichkeit, Freundschaft und Liebe erzählt.
Alle Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Doris Bender-Diebels
Der Mantel der Vergangenheit
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet auf http://www.dnb.de abrufbar.
Für Ernst
Zuversicht ist nichts Greifbares,
es ist ein Zustand,
in den man hineinwachsen muss.
Mahatma Gandhi
Düsseldorf-Bilk, März 1951
»Geheimnisse aller Art zu lüften« könnte man als die besondere Leidenschaft der zehnjährigen Rosa Martens beschreiben. Entdeckte sie die Spur zu etwas Verborgenem, fühlte sie eine detektivische Neugier, die ihre Fantasie für das Versteckte und Verbotene belebte. Vor allem ihre ausgeprägte Beobachtungsgabe, von Erwachsenen oft als kindliche Einbildungskraft belächelt, ließ sie solche Entdeckungen machen. Dazu kam ihr Mut, auf andere Menschen zuzugehen.
Rosa wachte auf. Ein Blick auf den Wecker genügte, sich gähnend wieder unter ihre Bettdecke zu kuscheln. Erst sechs Uhr. Um acht begann die Schule. Sie schloss die Augen.
Ihre Schwester Iris, mit der sie das Schlafsofa teilte, kniff sie wenig später in die Seite: »Du musst aufstehen, heute bist du dran. Schon vergessen?«
»Nein … aber nur weil du älter bist, brauchst du mir nicht zu sagen, wann ich aufstehen soll.«
»Fauch mich nicht so an. Ich kann doch nichts dafür, dass wir kein eigenes Klo haben und nachts auf den blöden Pott gehen müssen.« Iris drehte ihr den Rücken zu. Demonstrativ zog sie ihre Decke über den Kopf.
Nun konnte Rosa nicht mehr einschlafen und stand auf. Vorsichtig zog sie den Nachttopf unter dem Bett hervor. Sie wollte ihre Mutter nicht wecken, deshalb schlich sie auf Zehenspitzen, den Topf in beiden Händen balancierend in die Küche. Sie wusch sich am Spülbecken, zog ihre Sachen an und schlüpfte in ihre Pantoffeln. Mit dem Pipipott ging sie hinaus ins Treppenhaus. Das Klo der Familie Martens befand sich auf dem Speicher in der fünften Etage des Hauses, ein Stockwerk über ihrer Wohnung. Der Dachboden und die dortige kleine Wohnung wurden bei einem Bombenangriff durch Brand teilweise zerstört. Rosas Vater Herbert setzte die Toilette wieder instand. Oft erschreckte Rosa der Flügelschlag von Tauben, die durch das meist offen stehende Dachfenster ein- und ausflogen. Wenn sie allein im Halbdunkel hierher kam, begleitete Rosa die Furcht, jemand könne sich hinter der Mauer versteckt halten. Auch jetzt musste sie gegen diese Angst ankämpfen. Mit Herzklopfen stieg sie die Treppe hoch, wobei sie den Nachttopf fest umklammerte. Um diese Zeit war es draußen zwar schon hell, aber das kleine Fenster zwischen der vierten und fünften Etage ließ nur wenig Licht hinein. Wie immer flackerte die nackte Birne in der Fassung am mittleren Treppenabsatz. Bei der siebten Stufe angekommen sah sie auf dem Podest ein rundes, silbrig glänzendes Ding liegen. Es schien ein Knopf zu sein. Der hatte gestern Abend, als sie vor dem Zubettgehen aufs Klo gegangen war, noch nicht da gelegen. Das wäre ihr aufgefallen; denn Rosa war eine Sammlerin. Alles was sie fand, wurde in ihren Augen zu etwas Besonderem. Sie hob es auf, verwahrte es sorgfältig in einer Schachtel und schaute es immer wieder an, bis es eine Geschichte ergab, die sie mit ihrer Freundin Esther teilen konnte.
Sie stellte den Nachttopf ab, ergriff den Knopf und steckte ihn in die Tasche ihres Kleides. Dann schnappte sie sich erneut den Pinkelpott und wollte gerade die nächste Stufe nehmen, als ein leises Geräusch sie innehalten ließ. Lieber Gott, bitte, lass es lediglich eine Maus sein, betete sie. Doch ein Blick nach oben, in die Richtung des Geräusches, und ihre Beine froren ein. Da war etwas! Es bewegte sich! Nicht schnell … spürbar nur wie ein Hauch.
Im Nu pochte ihr Herz so heftig, dass das Blut in ihren Ohren rauschte. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Die Angst hinderte sie zwar daran, genauer hinzuschauen, dennoch nahm sie einige Schemen wahr: Auf dem oberen Podest sah sie die Umrisse einer Gestalt. Vom schwachen Deckenlicht beleuchtet, machte sie lange dunkle Haare aus, die auch über das Gesicht fielen. Oder war da gar kein Gesicht? Sie erkannte weder Augen, Mund noch Nase. Die Erscheinung wurde von einem Mantel umhüllt. Dieses Wesen wie aus einem Albtraum rührte sich nicht, stand einfach am Geländer. Rosa hörte nur ein leises Atemgeräusch. Dann nahm sie eine Bewegung wahr, einen zaghaften Schritt auf die Treppe zu … und plötzlich, von einer Heidenangst ergriffen, drehte sie sich um und lief schreiend die Stufen hinunter. Scheppernd fiel der Nachttopf zu Boden, und sein Inhalt ergoss sich auf das Podest vor ihrer Wohnung.
»Rosa, warum schreist du denn so, du weckst ja das ganze Haus auf! Ach herrje, was ist denn hier so nass?« Hanne Martens trat im Morgenmantel vor die Tür und rutschte beinahe in der Urinpfütze aus. Hinter ihr erschien Iris, die drehte sich sofort mit einem Kopfschütteln um und ging zurück in die Wohnung.
»Da oben ist jemand, Mutti, da gehe ich nie mehr hin. Jemand mit langen schwarzen Haaren, ganz groß, eine scheußliche Gestalt ohne Augen und Mund, ohne Nase, ich schwöre, da ist jemand auf dem Speicher mit einem Mantel.« Sie schluchzte und sank ihrer Mutter in die Arme.
Die Nachbarstür öffnete sich, und Frau König streckte den Kopf heraus: »Watt iss denn hier widder loss? Wer krakeelt denn hier so errüm? Kamma nich ma länger schlafe? Immer dat Jeschrei vonne Blagen. Un watt stenke denn hier eso?« Sie sah die gelbliche Nässe auf dem Boden. »Datt iss ja woll nich wahr, die Pisse hier – datt wird hoffentlich wech jemacht!« Sie drehte auf dem Absatz um und verschwand in ihrer Wohnung. Die Tür fiel krachend ins Schloss.
Hanne Martens verdrehte die Augen. Immer das Gleiche mit dieser nörgelnden Frau! Hanne wollte keinen Streit mit ihr. Wusste sie doch, dass Frau König erst seit der Nachricht über den Tod ihres Mannes in der Gefangenschaft so unduldsam war.
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