»Was soll die Frage? Natürlich kann ich lesen.«
»Morgen reden wir weiter, jetzt unterschreibe schon.«
Während Harry unterschrieb, fiel ihm auf, dass der Schriftsatz bereits eine andere Unterschrift, die des Kommissars, trug. Die musste schon vor diesem Verhör dort gewesen sein. Der Text schien ein Standardtext für Vergehen wie Schwarzschlachten sein. Es gelang ihm gerade noch, den Namen zu lesen, mit dem der Beamte unterschrieben hatte: Augsburger. Den Namen würde er niemals vergessen, schwor er.
Ein zweiter Polizist kam und legte ihm Handschellen an. Beim Hinausgehen würdigte er den Kommissar keines Blickes mehr. Er wurde in eine Zelle gebracht. Er hämmerte seinen Zorn und seine Machtlosigkeit mit den Fäusten an die Zellenwand, bis seine Handkanten bluteten. Sein Kopf dröhnte und drückte vor Schmerzen, als platze er jeden Augenblick.
Wie weit war es mit ihm gekommen? Vorige Woche hatte er sich noch mit anderen Bauern zum Bierchen getroffen, sie sprachen über die bevorstehende Gemüseernte und den großen Fleischmangel, der allen zu schaffen machte. Natürlich auch über die letzten Bombennächte. Erst recht sparten sie nicht mit Kritik an ihrem Ortsbauernführer Günther Schmitz. »Den Nazis so in den Arsch zu kriechen, den erkennt man ja nicht wieder. Der arbeitet doch nur noch für die Partei, sitzt im Büro und lässt seine Frau, die Marianne, mit Zwangsarbeitern schuften, die von den Nazis auf den Hof gebracht werden. Ich sage euch, das machen die nicht mehr lang, im englischen Radio hieß es, dass mehr und mehr Luftangriffe von den Engländern und den Amis kommen werden und die Wehrmacht im Osten hohe Verluste habe«, flüsterte Otto. Die Einschätzung seines Nachbarn war nur für ihren kleinen Kreis bestimmt.
Der und die beiden anderen hielten all die Zeit zu ihm, verteidigten ihn vor jenen Bauern, die in die Partei eingetreten waren und Harrys Parteilosigkeit störte, so als hätten sie selbst Nachteile dadurch. Fast alle, die Schweine aufzogen, schlachteten mitunter schwarz. Aber nie war vor ihm einer deswegen denunziert worden.
So wanderten seine Gedanken im Kreis, bis sie ihn wieder zu seiner ohnmächtigen Angst um Regina und seine Mädchen führten. Es würde seine Schuld sein, wenn ihnen etwas zustieße. Regina nahm vor einigen Jahren ein paar Mal an Treffen der Sozialdemokraten in Düsseldorf teil. Deshalb legte man wohl damals die Akte über sie an. Er dachte nach. Was könnten die Nazis noch über sie gesammelt haben? Nur die Teilnahme an drei oder vier Versammlungen 1932 machte sie kaum zur Volksverräterin. Die Art, wie der Kommissar über sie gesprochen und das Bild in ihrer Akte mit diesem lüsternen Blick verschlungen hatte, ließ ihn schaudern.
Regina wollte ihn vom Schlachten abbringen, sie stritten sich sogar deswegen, aber er musste sich ja unbedingt durchsetzen. Er kannte doch die Gefahren, die das mit sich bringen würde. Politik interessierte ihn nicht. Ihm wurde übel, und er erbrach Galle in den Toilettentopf. Er hatte den Tag über ja noch nichts gegessen oder getrunken. Er ging zur Tür und klopfte laut dagegen. Das musste er mehrmals machen, es dauerte lange, bis jemand kam und die Klappe öffnete. »Was willst du?«
»Wasser!«
Wortlos verriegelte der Wärter das Fenster. Nach einer gefühlten Ewigkeit sperrte er es wieder auf und reichte ein Glas Wasser hindurch. Ohne ein Wort zu sagen, stieß er die Öffnung abermals zu. Harry trank hastig das Wasser. Es rann kühl seine Kehle hinunter, ohne seinen Durst gänzlich zu löschen. Vor Erschöpfung fiel er in einen unruhigen Schlaf.
Düsseldorf, 21. März 1943 – Gestapoleitstelle
Schwaches Tageslicht drang durch das vergitterte Fenster, das nur einen kleinen Ausschnitt des wolkenverhangenen Himmels freigab. Die Klappe in der Zellentür wurde geöffnet, und jemand reichte ihm Wasser und zwei Scheiben Brot herein.
»Beeil dich mit Essen, um neun will der Herr Kriminalkommissar Augsburger noch mit dir sprechen. In zehn Minuten hole ich dich ab.« Der Wärter schloss die Luke. Der Name Augsburger trieb Harrys Herzschlag an. Er wusch sein Gesicht und die Hände an dem kleinen Waschbecken in der Zelle und verrichtete seine Notdurft. Er trank nur das Wasser. Ein paar Bisse ins trockene Brot genügten ihm, Hunger spürte er nicht mehr. Kurz danach öffnete sich die Zellentür. Ein Wärter trat mit einem knappen »Guten Morgen« ein. Dann nahm er Harrys Arm und dirigierte ihn aus der Zelle hinaus zum Vernehmungszimmer. Augsburger empfing ihn im selben Zimmer wie tags zuvor.
»Na, wie hat das Frühstück geschmeckt? Brot mit Schweinebauch wäre besser gewesen, nicht wahr, mein Freund?« Hell auflachend klopfte er sich auf die Schenkel. »Die Hochzeitsnacht allein in der Zelle. Ja, ich habe in der Akte gelesen, ihr hattet gestern den elften Hochzeitstag.« Seine Lippen verzogen sich wieder zu jenem Grinsen. »Aber nach so langer Ehe ist es mit der Liebe bestimmt nicht mehr so doll, nicht wahr? Da kann man doch stattdessen eine Nacht in einer unserer hübschen Zellen verbringen, ohne was zu vermissen, ist doch so, oder?«
Er wartete keine Antwort ab, fuhr plötzlich in milderem Ton, fast schon freundlich fort: »Ich möchte dir helfen. Der Günther, dein Freund, oder soll ich sagen, dein ehemaliger Freund, hat mich gestern noch angerufen und gefragt, ob ich nicht was für dich tun könne, du seist doch kein übler Straftäter, der dem Führer habe schaden wollen mit dem Schwarzschlachten. Und so ein guter Bauer, du habest im Dorf nie schlecht über die Politik des Führers gesprochen, auch wenn du kein Parteigenosse bist. Ich habe dem Günther gesagt, sicher könne ich was tun, aber dann hätte ich auch was gut bei dir. Das hat er eingesehen. Wir sind uns schnell einig geworden. Günther wird auf deine Familie aufpassen, damit Regina nichts Unerfreuliches passiert. Du verstehst schon, was ich meine, oder? Ich kann ja nicht täglich auf deinem Hof nach dem Rechten schauen, habe ja genug zu tun. Aber ich mache dir einen Vorschlag: Du meldest dich freiwillig zur Wehrmacht, es werden Soldaten für den Endsieg gebraucht. Dann musst du nicht ins Gefängnis. Hier, ich lese dir mal die Kriegswirtschaftsverordnung vor, gegen die du verstoßen hast. Er legte ein Blatt auf den Tisch und begann zu lesen: »§1 Abs. (1) Wer Rohstoffe oder Erzeugnisse, die zum lebenswichtigen Bedarf der Bevölkerung gehören, vernichtet, beiseite schafft oder zurückhält und dadurch böswillig die Deckung dieses Bedarfs gefährdet, wird mit Zuchthaus oder Gefängnis bestraft. In besonders schweren Fällen kann auf Todesstrafe erkannt werden. Da siehst du, wie schwer deine Tat wiegt und was dir dafür blühen kann. Erfahrungsgemäß gibt es Richter bei den Sondergerichten, die das sehr hart bestrafen. Wenn du aber meinem Rat folgst, kommst Du stattdessen für kurze Zeit in eine Ausbildungseinheit der Wehrmacht und wirst dann dahin geschickt, wo du gebraucht wirst. Du wirst sozusagen vom Schädling zum Helden für Volk und Vaterland. Wir nennen das Frontbewährung. Offiziell! Mit hoher Wahrscheinlichkeit gibt es aber hinter der Front genug Arbeit. Hast ja keine soldatische Erfahrung. Und ich sorge dafür, dass du spätestens nach sechs Monaten wieder zurück sein wirst bei deiner Frau und den Mädchen. Dann bist du ein freier Mann, niemand wird von der Strafsache erfahren, in deiner Akte wird kein Eintrag darüber sein. Das ist doch besser, als ins Gefängnis zu gehen, zu den anderen Verbrechern, die dich als Volksschädling behandeln werden. Wer weiß, ob du aus der Ulmer Höh lebend raus kommst? Die Wärter dort …«, er zog die Augenbrauen hoch, »du weißt schon, hast es bestimmt schon gehört, brauch ich dir nicht erklären, spricht sich ja herum.«
Der Kommissar machte eine Pause und beobachtete die Wirkung seiner Worte. Harry verlor jegliche Farbe aus dem Gesicht. »Günther wird deine Regina schon aus alter Freundschaft beschützen.«
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