Doch die Stimme seines Hauptmanns riss ihn aus den Gedanken.
»Gundela, was ist geschehen?«
Das Mädchen scharrte mit dem linken Fuß im Schnee.
»Ich habe die Vorstellung gesehen. Dann kam einer der Artisten, zog mir ein Geldstück aus der Nase und eine Maus aus dem Ohr. Es war lustig. Als die Vorstellung vorbei war, wollte ich nach Hause, aber als ich um eine Ecke kam, wurde ich festgehalten. Dann …« Sie brach ab, rang nach Worten. »Es war schrecklich. Immer wieder ist er über mich hergefallen.«
Von Waldow nickte.
»Ich werde dafür sorgen, dass der Mann gefunden und bestraft wird.«
Markus betrachtete Gundela genauer. Etwas kam ihm seltsam vor. Und dann wusste er es. Er hatte einen ähnlichen Gesichtsausdruck bereits gesehen. Er zog seinen Hauptmann am Ärmel.
»Kann ich Euch kurz sprechen?«
Von Waldow zog sich mit Markus zurück, der leise auf ihn einredete. Immer wieder sahen sie zu dem Mädchen und ihrem Vater. Schließlich nickte der Hauptmann und sie kehrten zurück.
»Mein Bursche hier würde dir gerne noch einige Fragen stellen, wenn du erlaubtst«, sagte er sanft zu Gundela.
»Du sagst, du wurdest festgehalten?«, begann Markus.
»Ja, das sagte ich bereits«, antwortete sie schnippisch.
»Und dann ist er über dich hergefallen?«
»Mehr als einmal!«
»War es an der Stelle, an der du überfallen wurdest? Oder hat er dich weggebracht?«
»Was soll diese Fragerei?«, fauchte ihr Vater, aber von Waldow sah ihn streng an.
»Haltet Euch zurück, sonst lasse ich Euch entfernen!«
»Nun, Gundela, wo hat er es getan?«, fuhr Markus mit sanfter Stimme fort.
»Ich … ich weiß nicht …«
»Hat er dich fortgeschleppt? Dich betäubt?«
Es blitzte in den Augen des Mädchens.
»Ja, betäubt hat er mich.«
»Und, was hast du für Kleider getragen?«
Gundela zögerte einen Moment.
»Das, was ich jetzt trage.«
Markus betrachtete die Kleider. Sie sahen sehr sauber aus, fand er.
»Als er über dich hergefallen ist, hast du dich gewehrt?«
»Wie eine Katze, aber er war so viel stärker!«
Gundela begann zu weinen. Ihr Vater sah aus, als ob er jeden Moment auf Markus losgehen würde. Der nickte nur.
»Ich denke, ich weiß, was geschehen ist.« Er lächelte, reckte sich ein wenig. »Du bist freiwillig mitgegangen. Deine Kleider sind sauber und nicht zerrissen, du hast keine Verletzungen, die von einem Kampf herrühren.« Er trat nahe an Gundela heran, die zu zittern begann. »Habe ich Recht? Du hast dem Mann deine Jungfräulichkeit geschenkt und bist enttäuscht, weil er fort ist, dich sitzengelassen hat, entehrt, vielleicht schwanger. Und du hast Angst gehabt, dass dein Vater dich dafür bestraft.«
Aus dem Augenwinkel sah er, wie von Waldow seine Hand auf den Schwertgriff legte, denn Gundelas Vater stieß ein wütendes Schnauben aus.
»Dieser Bursche wagt es, meine Tochter als billige Hure hinzustellen? Ich verlange, dass er für diese Anmaßung bestraft wird! Wir sind hier die Opfer und verlangen Gerechtigkeit!«, fauchte er wutentbrannt.
Gundela, die Markus die ganze Zeit schon fassungslos angestarrt hatte, verlor nun jedoch die Fassung und schluchzte laut.
»Ja, es ist wahr. Ich habe es freiwillig getan, für die Münze, die er mir aus der Nase gezogen hat. Er sagte, er liebt mich, nimmt mich mit. Weg von diesem stinkenden Ort!«, brach es aus ihr heraus.
Von Waldow legte Markus eine Hand auf die Schulter und zog ihn zurück, brachte Abstand zwischen ihn und Gundelas Vater, bevor der sich doch noch auf den cleveren Burschen stürzen konnte.
»Es reicht.« Er sah den Ankläger an. »Da das jetzt geklärt ist, überlasse ich Euch Eure Tochter. Aber ich warne Euch: Kommt mir zu Ohren, dass Ihr sie prügelt, werde ich jeden Schlag, den ihr dem Mädchen verabreicht, doppelt an Euch zurückgeben. Und glaubt mir, ich erfahre es, wenn es so sein sollte!«
Er wandte sich ab und zog Markus mit sich.
»Woher hast du das gewusst?«
»Ich hab es nicht gewusst, aber ich habe bei einem Mädchen in Rothenburg einmal einen ähnlichen Gesichtsausdruck gesehen, als sie gelogen hat.«
»Nun denn, trotzdem, es bleiben immer noch die Diebstähle und die verschwundenen Kinder.«
Im Laufe des Tages stellte sich heraus, dass aus dem Dom mehrere goldene Becher gestohlen worden waren, auch in den Häusern rings um die Inselstadt waren Gegenstände aus Silber verschwunden.
Nach und nach gesellten sich auch mehrere Menschen zu der Gruppe der Bestohlenen, denen man die Geldkatzen entwendet hatte. Dies war vermutlich durch Beutelschneider geschehen, die sich gern im Gewimmel herumdrückten und dann, wenn das Opfer abgelenkt war, mit einem scharfen Messer die Gelbeutel ab - oder aufschnitten und mit den darin enthaltenen Münzen in der Menschenmenge untertauchten.
Auch gaben mehrere Frauen an, belästigt oder sogar missbraucht worden zu sein. Am Ende stellte sich jedoch heraus, dass die Mehrzahl durchaus freiwillig mitgemacht und eine Vergewaltigung aus Angst vor ihren Ehemännern erfunden hatten. Die Motive waren teilweise der Reiz des Verbotenen, auf der anderen Seite aber auch einfach nur das Gefühl von Rache, wenn ihre Männer sich mit den Dirnen vergnügten.
Einige wirkliche Vergewaltigungen hatten ebenfalls stattgefunden, doch war nicht zu ermitteln, ob diese durch Angehörige der Gaukler oder aber durch Stadtbewohner geschehen waren.
Zwei Kinder waren verschwunden und nicht mehr aufzufinden. Allerdings gehörten sie zu einer bettelarmen Familie, deren Vater als Gerbergeselle arbeitete und seine Brut kaum ernähren konnte, die nach dem Verschwinden der beiden Buben immer noch stolze sieben Kinder zählte. Es kam nicht selten vor, dass die Verlockungen eines Lebens als Gaukler junge Abenteurer anzog und sie freiwillig mitgingen, besonders, wenn sie zu Hause nicht das Brot über Nacht hatten.
»Ich denke, dieser Obergauner braucht frisches Blut, Nachwuchs«, brummte von Waldau. Markus nickte.
»Ja, wenn sie zu groß werden, taugen sie als Beutelschneider nicht mehr. Er braucht dazu recht kleine, flinke Kinder. Und wenn es Mädchen sind, werden sie erst Artisten, dann wohl Dirnen.«
Wieder gab es Markus einen Stich. Ob Anna wohl …?, schoss es ihm durch den Kopf, aber schnell wischte er den Gedanken beiseite. Nein, Anna doch nicht! Sie würde so etwas niemals tun, da war er sich ganz sicher.
Die Gaukler waren längst über alle Berge. Niemand wusste, in welche Gegend sie gezogen waren. Eine Verfolgung wurde als sinnlos erachtet und die ganze Angelegenheit schnell vergessen, mit Ausnahme der verschwundenen Kinder.
August 1536
Gutshof von Matthias und Marie
Markus starrte ins Feuer, die Gedanken weit weg. Es war Marie, die ihn aus seinen Träumen riss.
»Und, habt ihr die Kinder jemals gefunden?«
Sie erschauerte bei dem Gedanken, jemand könnte ihre Töchter rauben und sie zu Dirnen machen.
»Nein, ich denke nicht.«
Marie nickte betrübt, doch dann lächelte sie wieder.
»Auf jeden Fall hast du einiges erlebt, das merke ich schon.«
»Das ist erst der Anfang«, meinte Markus. »Und es war mit Sicherheit nicht alles schön. Die Ausbildung war hart.«
»Aber du bist ein stattlicher Mann geworden«, warf Marie ein. »Dir laufen doch bestimmt die Mädchen hinterher!«
Max lachte dröhnend, legte sich die Arme um die Schulter und machte einen Kussmund, schmatzte dabei laut hörbar.
»Hmm, rote Anna küssen mit Markus. Markus schwer verliebt in rote Anna!«, brummte er.
Markus warf einen Stein nach ihm.
»Hör auf, du dummer Bär!«
Matthias warf Marie einen Blick zu, die plötzliches Erkennen in den Augen hatte.
»Anna? Etwa DIE Anna, die damals hier …?«
»Ja! Die Anna!«
Читать дальше