Erleichtert nahmen sie die Hände von den Waffen und warteten gelassen, bis die Reiter heran waren. Auch diesmal mussten sie sich trotz des königlichen Wappens auf dem Waffenrock von Sir James Begleiter genau ausweisen. Dann wies der Anführer der Truppe einen der Männer an, die Besucher zum Herzog zu geleiten, während sich die anderen wieder in die Deckung des Waldes zurückzogen.
Die Führung durch den Reiter war auch nötig, wie sich schnell herausstellte. Die Prunkzelte der adeligen Teilnehmer an einem Feldzug lagen üblicherweise etwas entfernt von den einfachen Kriegerunterkünften, aber an mehreren Stellen rund um das Kampfgebiet verteilt. Alleine hätten die beiden Ankömmlinge das Zelt des Herzogs im Gewirr des Heerlagers lange suchen müssen. Ihr ortskundiger Führer dagegen führte sie zielsicher auf dem kürzesten Weg quer durch ein wahres Labyrinth aus langen Reihen von Zelten und Hütten verschiedenster Machart bis zu einer sehr gut bewachten Ansammlung eleganter, bunter Prachtzelte. Vor einem davon, über dem die Flagge von Grantham und die des Königs aufgezogen waren, hielt er schließlich sein Pferd an.
Nachdem sie alle von ihren Pferden gestiegen waren, hieß ihr Führer sie warten und sprach kurz mit den Zeltwachen und verschwand dann im Innern. Schließlich kam er zurück, hielt einladend die Zeltklappe zur Seite und forderte Sir James auf einzutreten. Dieser hatte inzwischen die lederne Mappe mit den versiegelten Papieren aus seiner Satteltasche gezogen und trat ein.
Im Innern war es dämmrig, da nur wenig Licht durch die dicht gewebten Tuchwände eindringen konnte. Er wartete einen Augenblick, bis sich seine Augen nach der Helligkeit draußen an das diffuse Licht gewöhnt hatten, dann sah er einige Männer, die an einem grob zusammengezimmerten, von mehreren Kerzen beleuchteten Tisch standen und eine Karte studierten.
Er war dem Herzog schon verschiedentlich in London begegnet, daher hatte er keine Mühe, den Befehlshaber des Heerlagers unter den anderen Männern auszumachen. Sir Edward war groß, mit einem sehr kräftigen, breiten Körperbau und hob sich schon dadurch von den anderen ab. Der schlanke junge Mann im Kettenhemd neben ihm musste sein Sohn und Erbe Sir Robert sein, die Ähnlichkeit war unverkennbar. Er hatte das gleiche volle, dunkle Haar und die hellen Augen seines inzwischen leicht ergrauten Vaters. Der junge Ritter gehörte aus gutem Grund schon zum Führungsstab dazu, denn er war als klug und umsichtig bekannt und er war, trotz seiner jungen Jahre, schon ein sehr guter Kämpfer und Heerführer.
Sir Edward unterbrach jetzt seine Unterhaltung und wandte seine Aufmerksamkeit dem Ankömmling zu, während die anderen weiter über irgendwelche Geländeformationen und deren militärische Vorteile diskutierten. Für Sir James, der trotz seiner Unkenntnis in Kriegsbelangen doch eine gewisse Neugier verspürte und das Gehörte zu verstehen versuchte, ergaben die Worte keinen Sinn. Doch das musste es ja auch nicht, sagte er sich sofort. Er hatte andere Aufgaben und er war froh darüber.
Er beneidete die Männer nicht, die oft genug bei Wind und Wetter ihr Leben für den König riskierten. Fern von ihren Familie und ihren Besitztümern hausten sie in primitiven Heerlagern, während er trocken und sauber in der Sicherheit seines Arbeitszimmers saß und jeden Abend in sein elegantes Haus zu Frau und Kindern zurückkehren konnte.
„James Witherby, es freut mich Euch wiederzusehen“, Sir Edward riss den Besucher aus seinen Überlegungen und kam einen Schritt näher. „Ich muss zugeben, ich bin etwas überrascht, Euch hier im Kampfgebiet zu sehen. Was kann ich für Euch tun?“
„Mylord, ich bin im Auftrag des Königs unterwegs und soll Euch wichtige Papiere übergeben.“
Sir Edward hob erstaunt die Augenbrauen. „Und da kommt Ihr persönlich? Hätte es ein Meldereiter nicht auch getan?“
„Strikte Anweisung des Königs.“ Sir James zuckte ergeben die Achseln. „Glaubt mir, ich hätte gerne auf diesen Ausflug verzichtet. Ich bin Beamter, kein Krieger. Aber ich muss die Unterlagen persönlich an Euch aushändigen.“
„Tatsächlich?“
Neugierig geworden nahm der Herzog das in Leder geschlagene Bündel entgegen. Gut, nach den neuesten Informationen drohte König Henry auf dem Festland ein Krieg, der auch auf England übergreifen konnte und da war Geheimhaltung natürlich angebracht. Aber normalerweise verlangte der Schriftverkehr mit dem König oder seinem Justiziar Richard de Lucy nicht eine derartige Geheimniskrämerei. Herzog Edward kontrollierte das Siegel bevor er es aufbrach, nahm ein Schriftstück heraus und überflog den kurzen Text. Dann sah er ohne eine Miene zu verziehen auf und wandte sich wieder an Sir James.
„Vielen Dank. Es ist keine Antwort nötig, deshalb braucht Ihr nicht warten. Wenn Ihr über Nacht bleiben wollt, lasse ich Euch und Eurem Begleiter ein Zelt zuweisen.“
„Danke, aber ich möchte umgehend wieder aufbrechen, wenn es Euch recht ist. Wir können heute noch ein gutes Stück in Richtung London schaffen.“
„Ganz wie Ihr wünscht. Verzeiht, aber ich habe viel zu tun. Ich komme demnächst nach London zu einer Besprechung mit den Heerführern, die unten an der Küste Truppen aufstellen. Vielleicht haben wir dann Gelegenheit zu einem längeren Gespräch.“
„Ja, vielleicht. Hoffen wir, dass der König die Probleme mit seinem Sohn bald klären kann und die Truppen hier nur eine Vorsichtsmaßnahme bleiben.“
Sir James verbeugte sich und trat hinaus. Auf eine Nacht im Zelt konnte er gut verzichten, so gemütlich fand er brettharte Feldpritschen und kratzende Wolldecken nicht. Erleichtert gab er seinem Begleiter einen kurzen Bericht, dann bestiegen sie ihre Pferde wieder und machten sich auf den Weg nach Hause.
Drinnen im Zelt war Robert, der Sohn des Herzogs, aufmerksam geworden.
„Was gibt es denn?“, wollte er wissen, als sein Vater keine Anstalten machte, von sich aus etwas zu sagen. „Neuigkeiten aus Frankreich?“
„Nein. Ach, es ist nichts von Bedeutung. Nur Verwaltungsangelegenheiten.“ Sir Edward hielt das Schreiben an eine Kerze bis es Feuer fing, und ließ es dann achtlos auf den zertretenen Boden fallen, der vor Kurzem noch eine saftige Viehweide gewesen war. Einen kurzen Moment sah er zu, wie die Flammen über die Schriftzeichen leckten und das Papier schwarz wurde und in sich zusammenfiel. Dann hob er den Kopf und sah in die Runde. „Also, wo waren wir stehen geblieben?“
Sein Sohn wechselte einen erstaunten Blick mit den anderen Anwesenden. Nichts von Bedeutung? König Henry schickte extra einen Beamten statt eines gewöhnlichen Boten, das Schreiben durfte nur persönlich übergeben werden, und dann war es nichts von Bedeutung? Wer sollte das glauben? Aber gut, wenn sein Vater nicht darüber sprechen wollte, oder durfte, dann musste er das akzeptieren. Also fragte er nicht weiter und wandte sich mit den anderen wieder der Karte zu.
Henry II Plantagenet, König von England, Herzog von Aquitaine und der Normandie und Graf von Anjou, hatte sich mit seinem Hofstaat auf dem Festland in der Festung seiner normannischen Hauptstadt Rouen häuslich eingerichtet. Dort war er sicher vor möglichen Übergriffen seiner diversen Feinde, denn sowohl die Stadt als auch seine Burg waren überaus gut befestigt mit Mauern, Wällen, Gräben, Zugbrücken und Fallgitter. Der König hatte keine Kosten und Mühen gescheut, seinen Hauptsitz in eine uneinnehmbare Bastion zu verwandeln. Es gab mehrere Brunnen, die die Versorgung mit Trinkwasser sicherten und König Henry hatte Vorräte in schier unerschöpflichen Mengen einlagern lassen. Außerdem waren neben der kampfgewohnten Burgbesatzung genügend Truppen in der Umgebung stationiert, die ihrem König bei Bedarf in kürzester Zeit zu Hilfe kommen würden.
Nun wartete er in aller Ruhe auf die ersten Aktionen seiner Feinde, und diese Feinde waren zur Abwechslung einmal seine eigene, gegen ihn rebellierende Familie. Nicht, dass er nicht auch so genügend Widersacher gehabt hätte. Irgendjemand wollte immer das eigene Land auf Henrys Kosten vergrößern, oder Rache nehmen für eine alte Geschichte, und jetzt musste auch noch seine Familie den Aufstand proben! Sein Ältester und Thronerbe wollte Regierungsmacht, jetzt sofort, und seine Brüder hatten sich ihm angeschlossen. Der König war erst 40 Jahre alt und der Kronprinz wollte nicht ewig auf sein Erbe nach dem Tod seines Vaters warten müssen.
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